Den Beitrag „Volkswagen. Das Auto. Der Betrug“ von Wolf Wetzel übernehmen wir aus unserer Zeitschrift BIG BUSINESS CRIME (Ausgaben 02/2016) mit freundlicher Genehmigung von Wolf Wetzel. 

Transparency International hat seinen Bericht für das Jahr 2015 vorgelegt. Allein die großen global agierenden Banken sollen im Zeitraum 2010 bis 2014 weltweit mehr als 300 Milliarden Dollar an „Bußgeldern“ bezahlt haben, damit laufende Ermittlungsverfahren wegen Gesetzes- und Regelverstößen eingestellt wurden.

300.000 Millionen Dollar zur Strafrechtspflege. Alleine die Summe erklärt diese besondere Art der Rechtsfindung fast von selbst. Die allerwenigsten könnten eine solche Teil-Summe aufbringen, um einem Prozess aus dem Weg zu gehen. Und die allerwenigsten verdienen an strafbaren Handlungen (von Betrug bis Bestechung) so viel, dass sie spielend und dankbar einen Teil davon als „Bußgelder“ abgeben können. Man könnte diese Art der Wahrheitsfindung auch – im wahrsten Sinne des Wortes – als Klassen-Justiz bezeichnen.

Im Gegenschnitt sei als Stichwort an die „Straßenkriminalität“ erinnert, die man bei jeder Gelegenheit, zuletzt anlässlich der Silvesternacht in Köln 2015, mit allen Mitteln des Rechtsstaats, vor allem mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgen will. Und ganz schnell ist von neuen, schärferen Gesetzen die Rede, wenn angeblich die vorhandenen nicht abschreckend, nicht hart genug sind. Diese Parameter sollte man im Auge behalten, wenn es im Folgenden um Wirtschafts- bzw. Businesskriminalität geht.

Nach dem Bundeslagebild „Wirtschaftskriminalität 2010“ des Bundeskriminalamtes belief sich der durch Wirtschaftskriminalität verursachte Schaden im Berichtsjahr auf 4,66 Milliarden Euro (2009: 3,43 Milliarden Euro) und war damit um rund 36 Prozent angestiegen. Wörtlich: „Delikte der Wirtschaftskriminalität verursachten somit über die Hälfte des in der PKS (Polizeilichen Kriminalstatistik – W.W.) ausgewiesenen Gesamtschadens von rund 8,4 Milliarden Euro. Dabei hat die Wirtschaftskriminalität nur einen Anteil von 1,7 Prozent an den insgesamt polizeilich bekannt gewordenen Straftaten (2010: 5.933.278).“ Mit anderen Worten: Obgleich die Wirtschaftsstraftaten nur 1,7 Prozent aller strafbaren Handlungen ausmachen, verursachen sie rund 60 Prozent des durch Kriminalität insgesamt verursachten Schadens.

Legt man die durch Wirtschaftskriminalität konstatierte Schadenssumme von 4,66 Milliarden auf angenommene erfolgreiche Banküberfälle um, bei denen jeder (sehr großzügig) eine Viertelmillion Beute erbracht hätte, wären das rund 18.600 Banküberfälle in einem einzigen Jahr gewesen. Tatsächlich wurden weniger als 300 Banküberfälle registriert, mit einer durchschnittlichen Beute von einigen zehntausend Euro. Rund 80 Prozent aller Banküberfälle werden aufgeklärt.

Man stelle sich also nur für ein paar Minuten vor, dass in einem Jahr über 18.600 Banküberfälle verübt worden wären, mit jeweils einer Viertel Millionen Beute. Was wäre in Deutschland nach Bekanntmachung eines solchen Kriminalitäts-Tsunami los?

Halten wir ganz ruhig und besonnen fest: Weder die Höhe des Schadens, noch die dabei zum Einsatz gebrachte „kriminelle Energie“ bestimmen die strafrechtliche und politische Verfolgung. Es geht einzig und allein darum, ob diese Kriminalität als nützlich oder schädlich eingeschätzt wird. Die Wirtschaftssoziologie spricht in diesem Zusammenhang von „brauchbarer Illegalität“ (Niklas Luhmann).

Die Aussage Bertolt Brechts in der Dreigroschenoper: Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank, kann man nun aktionsorientiert so auflösen: Eine Bank raubt man am besten, am sichersten und frei von Strafverfolgung von Innen aus. Das schlimmste, was einem passieren kann, ist der eher frivole Umstand, dass man einen kleinen Teil der Beute abgeben muss.

Auf einen kleinen Haken an dem Vergleich Bankraub versus Banknapping sei hingewiesen: Bankräuber können einem Prozess und einer Verurteilung nicht entgehen, indem sie einen kleinen Teil ihrer Beute für einen außergerichtlichen Vergleich zurückgeben (vgl. Kai-Detlev Bussmann und Christian Lüdemann, Klassenjustiz oder Verfahrensökonomie? Aushandlungsprozesse in Wirtschafts- und allgemeinen Strafverfahren, Mai 1998).

Obwohl alleine die Deutsche Bank bereits neun Milliarden Euro bezahlt hat, um Prozesse zu verhindern, und über drei Milliarden für noch nicht abgeschlossene Verfahren als Löschmittel (in der Banksprache nennt man das Rückstellungen) bereithält, obwohl sogar das deutsche WM-Märchen 2006 gekauft wurde, zeigt sich Transparency International/TI doch sehr freundlich gegenüber deutschen Unternehmern und deutscher Regierungspolitik. Laut Frankfurter Rundschau sagt TI, stehe „Deutschland (…) eigentlich vergleichsweise ganz gut da – wären da nicht einige schwarze Schafe.“ (FR vom 28.1.2016)

Ist diese Einschätzung realitätstüchtig oder Teil des Problems, vor allem dann, wenn Transparency International als „Feigenblatt der Großindustrie“ (Der Spiegel vom 4.11.2003) fungiert? Das lässt sich sehr aktuell am Beispiel des „VW-Skandals“ durchspielen und überprüfen.

Der offiziellen Erzählung zufolge flog die systematische Manipulation von Diesel-Abgaswerten erst auf, als 2014 ein Forschungsinstitut in den USA die angegebenen Messwerte mit den tatsächlichen Werten verglich und im Fortgang der Untersuchungen eine eigens dafür konfigurierte Software ausfindig machen konnte, die diese Manipulation serienmäßig garantierte. Dabei handelte es sich um keine kleinen Abweichungen: “Als die Sache schließlich in den USA aufflog, stellten die Prüfer fest, dass VW-Diesel im Alltagsbetrieb die festgelegten Emissionsgrenzen um das bis zu 40-Fache überschritten.” (SZ vom 30./31. Januar 2016)

VW verhandelte daraufhin offensichtlich ganz diskret mit den US-Behörden und unterließ bis September 2015 die Unterrichtung der Kunden und Aktionäre. Erst als diese diskreten Verhandlungen zur Abwendung eines Klageverfahrens scheiterten, äußerte sich die VW-Spitze dazu. Man zeigte sich erschrocken ob dieser Beweise und erklärte sich für ahnungslos. Nicht ganz, denn die VW-Führungsspitze will hingegen ganz genau wissen, dass sie diese systematischen Manipulationen nie und zu keinem Zeitpunkt angeordnet habe. Aber selbstverständlich werde sie, rechtschaffen wie sie ist, diesem Vorwurf nachgehen und mit allen dafür zuständigen Behörden zusammenarbeiten.

Als Zeichen äußerster Kooperationsbereitschaft verfasste die VW-Konzernführung ein internes Schreiben an alle untergebenen VW-Mitarbeiter, ihr mögliches Wissen preiszugeben.

Ein Kronzeuge wie gemalt

Der Aufruf zu „internen Ermittlungen“ hatte Erfolg. Denn nun wissen wir, dass sich ein Mitarbeiter aus der mittleren Führungsebene als Zeuge bei der Braunschweiger Staatsanwaltschaft gemeldet und dabei sich und weitere Kollegen belastet hat. Das meldete zumindest der Medienverbund aus Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR. Ob man die Aussagen dieses Kronzeugen von der Staatsanwaltschaft zugespielt bekommen oder dieser sich selbst gegenüber dem Medienverbund geäußert hat, verschweigt die Pressemeldung. Wortreicher ist sie hingegen dabei, was der Kronzeuge als Insider des Manipulationskartells gesagt haben soll: Man habe auf der Führungsebene der Abteilung „Motorenentwicklung“ im Alleingang entschieden, diese Manipulationssoftware zu entwickeln. Das habe man ganz konspirativ gemacht, ohne andere Abteilungen darüber zu informieren. Dazu gab man sich ein „Schweigegelübde“. Auch die Führungsebene des Konzerns wurde nicht eingeweiht, geschweige denn, dass von dieser die Anweisung zur Entwicklung und Verbauung dieser Manipulationssoftware gekommen wäre.

Warum sollten aber Führungskräfte der Abteilung „Motorenentwicklung“ etwas tun, was sie sonst nie tun würden – ohne Anweisung, ohne Auftrag handeln? Warum sollten sie der Konzernspitze etwas abnehmen, wofür sie verdammt gut bezahlt wird (ca. 17 Millionen Euro im Jahr für den damaligen Konzern-Chef Winterkorn)?

Das Motiv für dieses nicht autorisierte Handeln einer konspirativen Zelle innerhalb des VW-Konzerns hat etwas von „Tausend und eine Nacht“: Die Konzernspitze, so der „Insider“, hätte Vorgaben bei den Diesel-Abgaswerten gemacht, die sie nicht – legal – umsetzen konnten. Um das Versagen zu vertuschen und den Chefs zu gefallen, habe man auf eigene Rechnung diese Software entwickelt:

„Die Motoren-Entwickler sahen sich damals von der Konzernspitze heftig unter Druck gesetzt, vor allem für den US-Markt eine schnelle und kostengünstige Lösung für einen sauberen Diesel- Motor zu präsentieren. Statt dem Vorstand zu offenbaren, dass man dies nicht schaffe, habe man sich für einen Betrug entschieden. Nach Angaben eines der Mitwirkenden habe es sich um eine Art ‚Verzweiflungstat‘ gehandelt.” (SZ vom 23.1.2016)

Wenn schwarze Schafe den Hirten beschützen

Wenn man diese rührselige Geschichte von Mitarbeitern liest, die alles für ihren Konzern geben, dann kann man der Konzernspitze zu solchen Mitarbeitern nur gratulieren: Zuerst begehen sie systematischen Betrug, ganz uneigennützig und hingabevoll und dann stellen sie sich freiwillig, um die Folgen dieses Betrugs ganz aufopferungsvoll auszubaden?

Weniger episch könnte man sagen: Ein solcher “Kronzeuge” kam wie gerufen. Er macht sich und ein paar weitere aus seiner Abteilung zu “schwarzen Schafen”, damit die Herde weiterziehen und der Oberhirte ungeniert verkünden kann: „Wir werden nicht zulassen, dass uns diese Krise lähmt, wir nutzen sie als Katalysator für den Wandel, den Volkswagen braucht.“ (VW-Vorstandschef Matthias Müller am 10. Dezember 2015)

Staatliche Aufsicht Teil des Problems oder Teil der Lösung

Lassen wir fürs Erste einmal die Frage ruhen, ob es über fast zehn Jahre hinweg eine konspirative Zelle im VW-Konzern gab, die ohne Wissen und Zustimmung der Konzernführung zu deren Wohl gehandelt hat.

Die nächste Frage, die sich bei der Deutschen Bank wie bei VW stellt: Handeln Konzerne gegen die staatliche Aufsicht oder kann dies – über so viele Jahre hinweg – nur durch fortgesetzte Nichtwahrnehmung staatlicher Aufsichtspflichten geschehen? Glücklicherweise lässt sich dies im Fall VW recht eindeutig beantworten.

Gerichtsfest ist dokumentiert, dass der ADAC bereits 2010 auf mangelhafte, also manipulierte Mess- und Prüfergebnisse (nicht nur) bei Diesel-Fahrzeugen aufmerksam gemacht hatte. Der ADAC führte eigene Tests durch und kam durchweg zu dem Schluss, dass die Ergebnisse auf dem Prüfstand eklatant von den Abgaswerten abweichen, die ein Fahrzeug im normalen Fahrbetrieb erreicht.

Die Kritik am gegenwärtigen Prüfverfahren und die Forderung, Abgaswerte nicht im simulierten Testverfahren, sondern im wirklichen Leben zu überprüfen, blieben den dafür zuständigen staatlichen Stellen nicht verborgen. Der ADAC richtete Anfang Juni 2010 einen zweiseitigen Brief ans Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Berlin. Der Brief, die Aufforderung, diese Tricksereien abzustellen, blieb folgenlos.

Und es stellt sich, mit Blick auf die in den USA angestellten Untersuchungen und Ergebnisse, die Frage: Gibt es in Deutschland keine Institute, die damit beauftragt wurden, das Herzstück eines Motors, die elektronische Steuerung, auf ihr “Innenleben” zu überprüfen? Würde das nicht zu einem staatlichen Prüfverfahren gehören, wenn neue Autos zugelassen werden? Warum wurde nie die Software untersucht, die entscheidend Auskunft darüber geben könnte, ob die vorgeschriebenen Diesel-Abgaswerte auch eingehalten werden?

Nicht nur dieser Brief lag den staatlichen Aufsichtsbehörden vor: “In den Akten des Umweltministeriums finden sich dazu neben dem ADAC-Brief noch weitere erhellende Unterlagen. Sie dokumentieren, wie schwer es in Deutschland und Europa ist, gesetzliche Grenzwerte zum Schutze der Umwelt durchzusetzen, wenn es gegen die Interessen der einflussreichen und mächtigen Autoindustrie geht. Gegen BMW und Daimler, gegen Fiat und Volkswagen.” (s.o.)

Man braucht keine Miss Marple, um einen Zusammenhang zwischen systematischer Manipulation, unterlassener staatlicher Aufsichtspflicht und damit Beihilfe zu gigantischen Wirtschaftsstraftaten herzustellen.

Mit der ganzen Härte des Gesetzes?

Das, was in Deutschland hätte schon lange passieren müssen, ist nun in den USA geschehen. Zähneknirschend machen sich nun auch deutsche Staatsanwälte an die “Aufklärung”. Mal wird bekannt, dass die Braunschweiger Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen VW-Chef Winterkorn ermittle, was wenig später dementiert wird.

Ob die Braunschweiger Staatsanwaltschaft willens oder bereit ist, unstrittige Rechtsbrüche zu verfolgen, ist nicht nur eine Frage des Wollens. Denn sie kann nur das verfolgen, was das Strafrecht für sanktionsfähig hält und was ihr aufgrund der Weisungsgebundenheit durch das Justizministerium erlaubt wird. Wozu bereits Letzteres führt, führte der Ex-Manager Hans-Joachim Selenz (Schwarzbuch VW, Eichborn, 2005, S.154) wie folgt aus: „Die für VW zuständige Staatsanwaltschaft Braunschweig erfüllt bis dato (also 2005) treu und brav ihre Rolle als Genossen-Schutzverein.“ Dieses bissige Fazit versteht man, wenn man mitberücksichtigt, dass der Staat (in Gestalt des Bundeslandes Niedersachsen) mit ca. 20 Prozent am VW-Konzern beteiligt ist und der Pate dieses Unternehmens meist von der SPD gestellt wird.

Doch, was wäre, wenn Staatsanwaltschaft und Justizministerium tatsächlich alles in ihrer Macht stehende tun würden? So kurios es anmutet, so wahr ist es: Die Staatsanwaltschaft kann kein Ermittlungsverfahren gegen die VW-Konzernführung einleiten. Der VW-Konzern, wie jedes andere Unternehmen auch, ist kein “sanktionsfähiges Subjekt”. Im existierenden deutschen Strafrecht, das sich auf Straftaten in und durch Unternehmen bezieht, herrscht Mittelalter. Man kennt dort nur “natürliche Personen”, denen man individuell nachweisen muss, dass sie die mögliche Straftat begangen haben.

Dass ein Unternehmen nicht aus “natürlichen”, also arbeitsrechtlich gleichgestellten Personen besteht, sondern aus Hierarchien, in denen ganz wenige Menschen Anweisungen erteilen und viele sie ausführen, ignoriert das Strafrecht. Dass in einem Unternehmen weisungsgebundene Organisationsstrukturen vorherrschen und private, persönliche Motive konstitutionell keine Rolle spielen, weiß eigentlich jedes Kind – nur das Strafrecht nicht.

Wenn also z.B. Deutsche Bank-Mitarbeiter über Jahre Libor-Zinssätze (zugunsten ihrer Bank) manipuliert haben, dann suggeriert das deutsche Strafrecht, dass diese Mitarbeiter aus “Untreue”, also gegen ihr Unternehmen gehandelt hätten. Dass das absurd ist, dass die Manipulation der Libor-Zinssätze einzig und alleine dem Unternehmen zugutekam, stört nicht. Dieses deutsche Strafrecht sanktioniert also nicht Rechtsbrüche von Unternehmen, sondern imaginiert mit dem Vorwurf der Untreue ein “schwarzes Schaf”, das die “weiße Weste” des Unternehmens beschmutzt haben soll. Ein solches Verfahren klärt folglich nicht auf, sondern hilft dabei, Verantwortlichkeiten zu verschleiern.

Nun werden viele – auf dem Gebiet der Rechtspflege Versierte – einwenden, dass das Strafrecht keine Handhabe gegen Unternehmensführungen vorsieht, dass schon deshalb der Staatsanwaltschaft die Hände gebunden seien. Seit Jahrzehnten. Genau so lange wird dieses “Manko” mit breitem Wohlwollen und großer Gelassenheit, durch alle Regierungskonstellationen hindurch hingenommen.

Unternehmenskriminalität ein rechtsfreier Raum

Zurück zur Straßenkriminalität: Wenn Handys geklaut werden, wenn Menschen “schwarz” fahren, wenn Ladendiebstähle zunehmen, wenn man für all das bevorzugt MigrantInnen und Flüchtlinge verantwortlich machen will, dann überbieten sich Polizei, Staatsanwaltschaft, Politiker und Medien gegenseitig: im Ruf nach schärferen Gesetzen, höhere Strafen, mehr Härte… Und in aller Regel vergehen kaum ein paar Monate, und man hat neue Gesetze verabschiedet.

Doch wenn es um milliardenschwere Kriminalität geht, die nicht auf der Straße verübt wird, sondern in Chefetagen, dann herrscht geduldige Handlungslosigkeit, dann fühlt sich der Rechtsstaat so gar nicht herausgefordert.

Wenn es um Ladendiebstahl, um Drogendelikte, um Flüchtlinge geht, kennen das Recht und die Fantasie keine Grenzen, keinen Halt mehr. Am 1. Februar 2016 flog der Innenminister de Maizière nach Afghanistan, um in diesem völlig zerstörten und vom Krieg geprägten Land nach “innerstaatliche Fluchtalternativen“ zu suchen, um so nationales und internationales Recht außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig wurde das Asylrecht zum soundsovielsten Mal verschärft (Asylpaket II).

Warum fliegt der Innenminister de Maizière nicht einmal in die USA, um sich dort erklären zu lassen, dass sogar im Land der unbegrenzten Möglichkeiten juristische Grenzen gezogen werden, mithilfe eines Unternehmensstrafrechts. Ein Strafrecht, das selbstverständlich keine Wirtschaftsverbrechen verhindert, aber wenigstens der Organisationsstruktur der Konzerne Rechnung trägt und ein Unternehmen daran misst, was ansonsten doch allerorts gefeiert wird: Führungswille, Führungskultur, Führungsverantwortung.

Warum fragt sich die Regierung nicht, warum erst in den USA gegen deutsche Unternehmen ermittelt werden muss, damit auch in Deutschland ein Hauch von Recht zu spüren ist?

Dass Unternehmen nicht gegen das Gesetz (hier) verstoßen (können), das Gesetz vielmehr organisierte Kriminalität in Unternehmen schützt, wissen nicht nur die Regierungen, die das seit Jahrzehnten ermöglichen und so rechtsfreie Zone einrichten.

Schwarze Schafe oder organisierte Kriminalität in Verbindung mit organisierter Untätigkeit staatlicher Behörden?

Was Wolfgang Hetzer mit Blick auf die Deutsche Bank ausführt, lässt sich strukturell auch auf den VW-Skandal übertragen:

“Sicher: Banker (männlich wie weiblich) sind regelmäßig gepflegt und hübsch angezogen. Sie ähneln kaum Drogen- und Menschenhändlern, Rockern oder anderen zwielichtigen Gestalten. Damit sind die Akteure der Finanzwelt aber noch nicht aus dem Schneider. Nach dem in Deutschland vorherrschenden Verständnis reicht für die Annahme Organisierter Kriminalität im Wesentlichen die planmäßige Begehung von Straftaten aus. Nach einer anderen Auffassung bezieht sich der Begriff auf kriminelle Organisationen, also Gruppen mit ‚formaler Struktur‘. Schließlich könnte man auch die Ausübung von Macht als das zentrale Element Organisierter Kriminalität sehen, ausgeübt durch Kriminelle alleine oder in Allianz mit anderen Kriminellen und/oder Angehörigen der gesellschaftlichen ‚Eliten‘. Im Hinblick auf die zweite genannte Variante erscheint Organisierte Kriminalität als ein systemischer Zustand, gekennzeichnet durch die Korrumpierung der verfassungsmäßigen Ordnung im Zusammenwirken von Unterwelt, Wirtschaft und Politik.” (Wolfgang Hetzer: Ist die Deutsche Bank eine kriminelle Vereinigung?, in: Die Kriminalpolizei, Ausgabe März 2014)

Man kann dieser politischen und strafrechtlichen Einschätzung profundes Wissen unterstellen. Wolfgang Hetzer ist promovierter Rechts- und Staatswissenschaftler und war von 2002 bis 2013 Abteilungsleiter im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF/Office Européen de Lutte Anti-Fraude).

Selbst ohne die Einführung eines Unternehmensstrafrechts wäre es also möglich, dem Irrwitz von Einzeltätern und schwarzen Schafen ein Ende zu bereiten, wenn man „brauchbare Illegalität“ nicht länger protegieren würde.

Zum Autor:

Wolf Wetzel lebt und arbeitet als freier Autor in Frankfurt am Main. Letzte Buchveröffentlichung: „Der Rechtsstaat im Untergrund. Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität“, PapyRossa Verlag, Köln 2015.