Den Beitrag „Der strahlende Selbstbetrug“ von Gerhard Schmidt und Herbert Stelz übernehmen wir aus unserer Zeitschrift BIG BUSINESS CRIME (Ausgaben 1/2016) mit freundlicher Genehmigung der Autoren. 

Wohin mit dem tödlichen Atommüll?

Die Energiegewinnung aus der Atomkraft erweist sich zunehmend als der gefährlichste und teuerste Irrtum der Industriegeschichte. Zwar steigt Deutschland in den nächsten Jahren schrittweise aus diesem aus, doch bis jetzt ist weltweit noch keine Lösung für die sichere Lagerung des Atommülls in Sicht. Der bedrohlichste Teil des gefährlichsten Abfalls aller Zeiten strahlt so stark, dass er für Millionen von Jahren sicher von der Biosphäre abgeschlossen endgelagert werden muss. Anderenfalls könnte er unabsehbare Schäden an der Gesundheit der Bevölkerung, beim Wasser, in der Natur und in der Luft anrichten. Von der Gefahr eines terroristischen Angriffs ganz abgesehen. Das unbewältigte Erbe von gerade mal einem halben Jahrhundert Stromproduktion bedroht und belastet die nächsten 330.000 Generationen. Kein Druckfehler, 330.000 Generationen, das sind über acht Millionen Jahre. Man kann sich kaum ausmalen, wie sehr Milliarden von Nachkommen unsere Generation wegen dieser tödlichen Hinterlassenschaft verfluchen werden.

Trotzdem wird auch in unserem Land täglich mehr von dem Teufelsmüll produziert, obwohl weder die Atomindustrie noch die Regierung einen belastbaren Plan für die Bewältigung dieses Problems haben. Auch weltweit gibt es noch kein funktionierendes Endlager. Das Märchen vom billigen Atomstrom hat sich längst als gigantischer Selbstbetrug entlarvt.

Die folgende Darstellung basiert auf einem Vortrag, den Gerhard Schmidt, graduierter Ingenieur für Chemische Technologie, und einer der erfahrensten Experten für die Hinterlassenschaften der Atomindustrie beim Darmstädter Öko-Institut, im Rahmen einer Matinee von Business Crime Control und KunstGesellschaft am 8. November 2015 im Frankfurter Club Voltaire gehalten hat. Schmidt hat sich u. a. im Auftrag der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments mit der Entsorgung und Endlagerung radioaktiver Abfälle beschäftigt.

Das Problem

Am Anfang stand Sorglosigkeit. „Dieses ist, soweit ich sehen kann, überhaupt kein Problem“, dozierte etwa der berühmte Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker einst zum Thema Atommüll. „Ich habe mir sagen lassen“, spekulierte gänzlich unwissenschaftlich der hochgeachtete Bruder des ehemaligen Bundespräsidenten,  „dass der gesamte Atommüll, der in der Bundesrepublik im Jahr 2000 vorhanden sein wird, in einen Kasten hineinginge, der ein Kubus von 20 Metern Seitenlänge ist. Wenn man das gut verschließt und versiegelt und in ein Bergwerk steckt, dann wird man hoffen können, dass man damit das Problem gelöst hat.“ Das war 1969 und ein peinliches Beispiel für die Realitätsferne und Leichtfertigkeit, mit der auch die Wissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren dabei half, die deutsche Atomindustrie hochzurüsten. Ernsthaft dachte vor 50 Jahren offenbar niemand darüber nach, wie und wo denn der einmalig gefährliche Müll aus ein paar Jahrzehnten Stromproduktion jemals sicher gelagert werden könnte.

Natürlich hätte man es auch schon 1969 besser wissen können. Wie bei vielen anderen Techniken auch kam die Erleuchtung aber erst, als es an die Realisierung ging. Die Realität beim gefährlichsten Müll aller Zeiten zeigt dieses Schaubild:

Grafik 1

Es zeigt die Mengen des Brennstoff- und Abfallkreislaufs eines einzigen Standardreaktors mit 1.000 Megawatt elektrischer Leistung in einem einzigen Jahr. Die schwarzen Kästen am unteren Rand symbolisieren die benötigten Absetzdeponien und Endlager, wenn es diese denn schon gäbe. Die grauen Kästen darüber symbolisieren die Zwischenlager, die man braucht, solange es keine Endlager gibt. Aus den Zahlen zwischen den Produktionsschritten ergeben sich die Mengen der Brennstoffe und der daraus entstehenden oft noch größeren Abfallmassen.

Am Beispiel der Urangewinnung (links) lässt sich bereits erkennen, wie absurd die Prognose des großen Physikers von Weizsäcker war. Die 163 bis 198 Tonnen Natururan, die der Reaktor in einem Jahr braucht, stellen 0,1 % der Menge an Uranerz dar, die zu ihrer Gewinnung abgebaut werden muss. Die restlichen 99,9 % sind radioaktive Rückstände, sogenannte Tailings, die über Tausende von Jahren gut und sicher verwahrt werden müssen. Uranerz aber wird im Ausland gewonnen, der dabei entstehende Abfall verbleibt dort. Müsste man ihn direkt bei den Kraftwerken lagern, entstünde Jahr für Jahr neben jedem AKW ein gigantischer Hügel aus radioaktiven Tailings mit einer Höhe zwischen 18 und 96 Metern. So aber belasten die Unmengen an strahlendem Abraum vor allem die Lieferländer wie Kanada, Australien und einige afrikanische Länder.

Sind dann aus ca. 190.000 geförderten Tonnen Erz auf chemischem Weg ca. 190 Tonnen Natururan extrahiert und daraus gerade mal 19 Tonnen Brennstoff für den Reaktor erzeugt, entstehen mit der Kernspaltung erst die richtig strahlenden Mengen. Die Spaltung macht den Brennstoff erst richtig heiß: aus einem vergleichsweise gering radioaktiven Stoff wird ein millionenfach höher radioaktiver abgebrannter Brennstoff.

Bei der Wiederaufarbeitung ging es bis vor wenigen Jahren mit der Abfallproduktion munter weiter: beim angeblich umweltfreundlichen Recycling entstanden um ein Vielfaches größere Mengen hochgefährlichen Abfalls und es wurden erkleckliche Anteile in die Luft und ins Meer entsorgt. Recycelt werden von den 19 Tonnen letztlich tatsächlich nur 2,9 Tonnen, der überwiegende Rest wird endzulagernder Abfall. Und das unter Inkaufnahme erheblicher Emissionen in die Umgebung.

Erst mit der Änderung des Atomgesetzes 2001 durch die rotgrüne Koalition wurde die Wiederaufarbeitung ab dem Jahr 2005 verboten. Seitdem werden keine abgebrannten Brennelemente mehr ins französische La Hague oder ins britische Sellafield gebracht. Gleichwohl sind die Castor-Transporte von dort nach Deutschland zurück noch immer nicht beendet. Der Euphemismus „Wiederaufarbeitung“ verdeckt die Tatsache, dass bei diesem Vorgang ein Mehrfaches an extrem heißem und strahlendem Müll entsteht, als vorher in Form von abgebrannten Brennelementen hineingegeben wurde. Das hochradioaktive Müllprodukt am Ende besteht aus einer Suppe, die zur Vermeidung von gefährlicher Überhitzung ständig gekühlt und gerührt werden muss und nur fernbedient hinter meterdicken Mauern und Bleiglasscheiben überhaupt behandelt werden kann. Diese Suppe wird nun – immer fernbedient – in Glas eingeschmolzen. Diese Glaskokillen strahlen noch immer so stark, dass ein Mensch sich nur Bruchteile von Sekunden neben einer solchen Kokille aufhalten könnte, dann wäre er tot.

http://www.businesscrime.de/wp-content/uploads/2016/02/Grafik-2.jpg

Weil die hochgefährliche und milliardenteure Wiederaufarbeitung aus vielen guten Gründen nun verboten ist, ist dieser Weg in der Grafik durchgestrichen. Die Müllmengen sind gleichwohl weiter entstanden und entstehen in anderen Ländern weiterhin.

Spätestens mit dieser Grafik wird klar, dass der von Weizsäckersche Würfel mit einer Kantenlänge von 20 Metern schon mit der Aufnahme einer einzigen Jahresmenge aus einem einzigen mittelgroßen Reaktor hoffnungslos überfordert wäre. Offenkundig haben sich da ein paar Karlsruher Wissenschaftler in den 1960er Jahren um mindestens drei bis vier Größenordnungen verschätzt.

Wie groß ist das Problem?

Radioaktive Abfälle sind von extrem unterschiedlicher Qualität, ihr Gehalt an Radioaktivität reicht von sehr gering bis zu extrem hochradioaktiv.

Die Strahlung lässt sich an der Höhe der Aktivitätskonzentration in der untersten Reihe unter der Grafik ablesen. Lesebeispiel: Lebensmittel dürfen zwischen tausend (1,E+03) und über 100.000 (> 1,E+05) Becquerel pro Tonne enthalten. Die durchschnittliche Erdkruste enthält zwischen 10.000 (1,E+4) und 100.000 (1,E+5) Bq/t. Die Grafik bildet die Konzentration radioaktiver Stoffe pro Masseneinheit in Bandbreiten ab. Die Skala ist logarithmisch, jeder vertikale Teilabschnitt entspricht nach rechts dem Zehnfachen, nach links einem Zehntel.

Die beiden Abfallarten „Glaskokillen aus der WAA (Wiederaufarbeitung)“ und „Bestrahlte Brennelemente“ führen die Skala ganz oben rechts an. Hier zerfallen pro Tonne dieser beiden Abfallarten 1016 (10 Billiarden) und 1017 (100 Billiarden) Atome in jeder Sekunde und erzeugen dabei einen Gamma-, Beta- oder Alphastrahl. Anders gerechnet: Pro Milligramm, also einem kaum noch sichtbaren Korn, sind es 10 Millionen Zerfälle pro Sekunde, die den Geigerzähler zum Vollausschlag bringen. Quasi tödlicher als tödlich.

Aus diesen Zahlen lässt sich erkennen, dass radioaktive Abfälle ein extrem weites Spektrum haben können, welches das mögliche Spektrum chemischer Giftigkeit bei weitem übertrifft. Und dass hochradioaktive WAA-Glaskokillen und abgebrannte Brennelemente eine Abfallklasse für sich sind.

Diese sind mit Abstand das Gefährlichste, was die Menschheit je an Stoffen erzeugt hat. Und sie müssen bei einer Endlagerung so sicher von der Biosphäre getrennt aufbewahrt werden, dass niemals mehr der Mensch oder die Natur durch sie gefährdet werden könnten. Denn die zweite Dimension des Problems ist ähnlich unvorstellbar: Der Zeitraum, über den das gelingen muss.

Wie lange bleibt gefährlich noch gefährlich?

Nun sind radioaktive Abfälle ja radioaktiv, sind also irgendwann, wenn sie zerfallen sind, nicht mehr radioaktiv. Die Frage stellt sich also, wie lange das so gehen müsste, bis unsere Nachkommen das Problem von selbst vom Hals hätten.

Dazu müssen wir im Prinzip nur schauen, wann die Abfälle bis auf vernachlässigbare Restmengen an Radioaktivität zerfallen sind. Dabei stellt sich das zusätzliche Problem, dass 1 Bq Cäsium-137 anders gefährlich ist als 1 Bq Cobalt-60 oder 1 Bq Uran-233. Um dieses Problem zu beheben, teilen wir die Bq im Abfall durch ihren Freigabewert in der Strahlenschutzverordnung. Radionuklide mit einem hohen Freigabewert wie z. B. Tritium, die also weniger radiologisch gefährlich sind, werden dadurch in ihrer Gesamtbedeutung abgesenkt. Umgekehrt werden Radionuklide mit sehr niedrigem Freigabewert, wie z. B. Strontium-90, in ihrer Bedeutung verstärkt. Außerdem erhalten wir durch diese Methode die bequeme und aussagekräftige Auskunft, ob ein Abfall nach Strahlenschutzverordnung als ungefährlich1 freigebbar wäre oder nicht. In der folgenden Abbildung sind solche Freigabevielfache ausgerechnet. Freigegebene Abfälle sind solche, die einfach rumliegen dürfen, die  man aufessen darf oder auch Häuser damit bauen. Der Freigabewert ist die Menge an Radioaktivität, die uns der Gesetzgeber als Strahlenrisiko zumutet.

„Ungefährlich“ bedeutet hier: „mit einem so geringen Schadensrisiko behaftet, dass dieses Risiko trivial ist und vernachlässigt werden kann“.

Die folgende Grafik zeigt die Langlebigkeit verschiedener Abfallarten, gemessen am Freigabewert.

http://www.businesscrime.de/wp-content/uploads/2016/02/Grafik-3.jpg

Beide Achsen der Tabelle sind wieder logarithmisch. Die Zeitachse reicht von einem Jahr (1E+00) bis 10 Millionen Jahre (1E+07). Die Achse „Vielfache der Freigabe“ zeigt an, um das wievielfache der Abfall über dem Freigabewert liegt: ein freigebbarer Abfall läge bei unter 1 (oder 1,E+00 in der Abbildung) , Abfälle darüber sind nicht freigebbar. Da sich praktisch alle radioaktiven Abfälle aus einem Gemisch unterschiedlichster Radionuklide zusammensetzen, ist hier der Summenwert abgebildet.

Die Kurve mit dem hochradioaktiven Abfall in den Glaskokillen aus der sogenannten Wiederaufarbeitung (WAA) startet links oben beim Zehnmilliardenfachen des Freigabewerts und fällt dann etwas stärker ab. Nach 100.000 Jahren (1,E+05) ist er immer noch 10millionenfach über der Ungefährlichkeitsgrenze des Verordnungsgebers. Am Ende, also nach 10 Millionen Jahren, bleibt dieser Abfall noch immer um das 1-Millionenfache (1,E+06) über dem Freigabewert. Zusätzlich entstehen mit der Zeit andere radioaktive Stoffe, er bleibt auf diesem Niveau der millionenfach höheren Gefahr, er wird praktisch nie freigebbar werden. Die Halbwertszeit ist die Zeitspanne, in der die Menge und damit auch die Aktivität eines gegebenen Radionukleids durch den Zerfall auf die Hälfte gesunken ist.

Der Begriff der Halbwertszeit ist also mehr als irreführend, wenn er suggeriert, dass die Menschheit diese Strahlengefahr irgendwann mal los wäre. Angesichts dieser Erkenntnisse ist es umso erstaunlicher, dass es Politik und Wirtschaft seit Jahrzehnten gelungen ist, dem Volk zu suggerieren, die Atomtechnik sei eine sichere und beherrschbare. Auch Carl Friedrich von Weizsäcker verfügte bereits in den 60er Jahren über das Instrument der Zerfallskettenrechnung. Doch niemand wollte sich damals dazu bekennen, welcher Teufel da aus der Flasche gelassen wurde. Noch weniger ist nachzuvollziehen, dass zum Beispiel die britischen EU-Partner allen Ernstes dabei sind, neue Atomkraftwerke zu bauen, ohne ihre bestehenden und teuren Probleme mit radioaktiven Altlasten in Sellafield und an anderen Standorten auch nur konsequent in Angriff zu nehmen. Auf den Haufen ungelöster Probleme passen auch ganz gut noch ein paar neue drauf.

Immer wieder werden unkonventionelle Alternativen zu einer Endlagerung diskutiert. Zum Beispiel die sogenannte Transmutation. Das ist ein Konzept, bei dem man den Zerfall der Stoffe beschleunigen will und damit Neptunium, Plutonium, Americium und Curium aus dem Abfall vollständig herausholen könnte. Doch dafür wäre eine neue Riesentechnologie nötig, ein Vielfaches der Wiederaufarbeitung und mit ähnlich großen, zusätzlichen Mengen an Strahlenmüll. Erreicht hätte man wenig, das zeigt die graue Kurve in der Grafik. Sie würde bis 5.000 Jahre lang etwas steiler abfallen und danach wieder leicht ansteigen. Am Ende, nach 10 Millionen Jahren, liegt der transmutierte Abfall noch immer beim 7-Millionenfachen der Freigabegrenze, ist daher bei weitem nicht freigebbar. Der gesamte Aufwand für eine Transmutation ist daher langfristig betrachtet ohne jeden Effekt, der Abfall ist mit Wiederaufarbeitung und Transmutation nicht weniger gefährlich und weniger langlebig als er das ohne Wiederaufarbeitung und Transmutation auch ist.

Auch eine Entsorgung in das Weltall ist nicht realistisch. Zum einen wäre der Aufwand gigantisch, alleine die weltweit mehr als 200.000 Tonnen abgebrannter Brennelemente mit teuren und nicht wiederverwendbaren Raketen ins All zu schießen. Zum anderen würde auch nur ein einziger Fehlstart unabsehbare Konsequenzen haben.

Eine Entsorgung in den Weltmeeren wurde nach vielen skandalösen Vorfällen in früherer Zeit mit der „London Dumping Convention“ von 1972 verboten. Zunächst betraf das Verbot lediglich hochradioaktive Stoffe, im Jahr 1993 erst wurde es auf alle Arten radioaktiver Stoffe ausgedehnt. Doch auch heute noch wird dagegen verstoßen. So stellen Kritiker immer wieder stark erhöhte Radioaktivität in den Meeren nahe den Wiederaufarbeitungsanlagen von La Hague und Sellafield fest. Und die Fernsehbilder von der Entsorgung radioaktiver Kühl- und Schmutzwässer aus den havarierten Reaktoren von Fukushima ins angrenzende Meer hat wohl jeder gesehen. Die Stoffe breiten sich durch Diffusion weltweit aus und schädigen die Natur in bisher wenig erforschter Weise.

Im Endeffekt bedeutet das, dass die Zeiten, über die der Abfall gefährlich bleibt, weder mit technischen Mitteln noch mittels irgendwelchen Formen der menschlichen Bewachung noch durch einen einfachen Einschluss in Gebäude oder Behälter bewältigbar wäre. Die anzusetzenden Einschlussmechanismen sind einfach zu an-spruchsvoll, um sie mit den gewohnten administrativen und technischen Mitteln erreichen zu können. Um in der von-Weizsäcker‘schen Diktion zu schreiben: Das Bergwerk muss auch in 10 Millionen Jahren noch den Abfall sicher einschließen und muss daher besonders dicht und trocken sein, damit sich die darin eingeschlossenen radioaktiven Stoffe nicht in Lösung begeben und auf den Weg in die belebte Umwelt machen können.

Was tun?

Gesucht ist daher ein Einschlusssystem, das auch nach Millionen Jahren noch die Gewähr dafür bietet, dass die Abfälle nicht in die Biosphäre gelangen und bei dortigen Lebewesen, so es sie denn geben sollte, Strahlenbelastungen zu verursachen. Dabei wäre es widersinnig darauf zu hoffen, dass ein ungenügend ausgewählter Standort in späteren Zeiten noch irgendwie nachträglich zu reparieren wäre. Er muss daher nicht nur heutigen sondern auch allen künftigen 330.000 Menschengenerationen als bestgeeignete Wahl für diese Aufgabe erscheinen.

Pragmatiker, die gerne zu Kompromissen neigen, sind für eine solche Aufgabe übrigens gänzlich ungeeignet. Wohin Pragmatismus in diesem Fall führt, lässt sich an vielen historischen Beispielen studieren:

  • Der Einkauf des ehemaligen Salzbergwerks Asse II im Jahre 1965 durch eine Bundesbehörde erwies sich als teurer und katastrophaler Fehlgriff, da die von den Salzbergbauern aufgefahrenen Hohlräume weder langfristig stabil bleiben noch den vollständigen dauerhaften Einschluss der Abfälle garantieren. Das jahrzehntelange Beharren darauf, das Bergwerk ganz pragmatisch einfach mit Salzlauge zu fluten, tat ein Übriges, um jedes Vertrauen in ein sachgerechtes Management der Endlageraufgabe zu erschüttern. Jahrelang wurden, aus einer seltsamen Mischung aus Pragmatismus, Naivität und möglicherweise kriminellen Machenschaftens heraus, unklar oder möglicherweise falsch deklarierte vermischte Abfälle dort oft einfach abgekippt. Dabei wurde sträflich versäumt, die so entsorgten Abfälle wenigstens ordnungsgemäß zu dokumentieren. Zwar beschwört die Politik heute die Rückholung des gesamten Inventars. Doch nirgendwo existiert bisher ein ausreichend großes und geeignetes Zwischenlager. Die einzige durchgehende Straße zu den einzelnen Stollen ist schon heute nicht mehr durchgängig passierbar. Der Inhalt mancher Stollen ist so unklar und damit gefährlich, dass er nur noch fernbedient handhabbar wäre. Fachleute bezweifeln, dass eine Rückholung überhaupt noch machbar ist. Sowohl die Rückholung, so sie denn ginge und verantwortbar wäre, als auch ein kompletter Beton-Verschluss des Bergwerks sind mit einem sehr hohen Aufwand verbunden sowie mit dem Risiko verknüpft, dass es während dieser Arbeiten zu katastrophal verlaufenden Wasserzutritten, vulgo Absaufen, kommen kann, was zu einer unkontrollierbaren Lage führen könnte.
  • Die frühe Entscheidung des US-Kongresses, aus einem Strauß angebotener Möglichkeiten ausgerechnet den Wüstenstandort Yucca Mountain/Nevada für das Endlager zu erwählen, erwies sich als keine gute Wahl. Aus pragmatischer Sicht unschlagbar günstig war es, dass sich das Gelände bereits in der Hand des Bundes befand und es sich um ein Militärgelände handelte. Die Wahrscheinlichkeit, dass am Standort ein Vulkan die endgelagerten Behälter erreicht und deren Inhalt ins Freie gelangen könnte, war noch nicht fertig gerechnet, als die Geologen wenige Meilen vom Standort einen nur 12.000 Jahre alten Vulkan identifizierten. Doch das rührte den US-Kongress nicht, so dass weitere Milliarden Entwicklungsaufwand getrieben wurden. Entscheidungen für Standorte sind bei Endlagern offenkundig von einer solchen aufgeladenen Bedeutung, dass der Wunsch auf eigentlich längst toten Gäulen zu reiten zum Regelverhalten von Pragmatikern gehört. Barack Obama hat Yucca Mountain vorläufig gestoppt. Sollte der nächste US-Präsident ein Republikaner sein, dürften die Arbeiten an dem vulkangefährdeten Projekt weitergehen.

Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen, sie macht nicht viel Hoffnung darauf, dass die Aufgabe gelingt, den gefährlichsten Abfall der Menschheitsgeschichte so einschließen zu können, dass auch die nachfolgenden 330.000 Generationen mit der Wahl noch zufrieden und einverstanden sein mögen. Alleine, es gibt keine andere verantwortbare Lösung als einen solchen Einschluss. Nur er bietet die nötige Zuverlässigkeit. Wer der Ansicht ist, dass sich die Entscheidung für gesellschaftliche Rollenspiele gut eignet („Sankt Florian“, „Schwarzer Peter“, etc.), möge der 330.000 nachfolgenden Generationen gedenken, deren Wohl von dieser Entscheidung abhängt. Wer in Anbetracht der großen Verantwortung der Ansicht ist, die Entscheidung dann doch lieber auf die lange Bank schieben zu wollen, sollte sich bewusst machen, dass Nichtentscheidung auch eine Entscheidung ist. Nämlich die für das größte Risiko für nachfolgende Generationen.

Fazit

So ergeben sich nach bisherigem Stand der Erkenntnisse folgende grundsätzliche Feststellungen:

  1. Die radioaktiven Abfälle aus dem ausgehenden Atomzeitalter müssen langzeitsicher endgelagert werden.
  2. Dazu gibt es weder technisch machbare noch ausreichend zuverlässige sowie ethisch verantwortbare Alternativen, die den Schutz nachfolgender Generationen gewährleisten.
  3. Das Dilemma mit der Altlast Asse macht deutlich, wohin Verharmlosung und undurchdachte, „spontane“ Kurzschlüsse langfristig geführt haben.
  4. Auf der anderen Seite ist „Liegenlassen“ und „Nichtentscheiden“ keine vernünftige Verhaltensweise: das Problem erledigt sich weder von selbst, noch ist mit genialen Einfällen künftiger Generationen zu rechnen.
  5. Mit dem Ende des Atomzeitalters aktualisiert sich die Verpflichtung der heutigen Generationen, verantwortbare Problemlösungen in Gang zu setzen.

Von einer wirklichen Lösung sind wir jedoch noch weit entfernt.

Zu den Autoren:

Gerhard Schmidt, Ing. grad., ist Experte für Atommüll am Öko-Institut Darmstadt.

Herbert Stelz ist Journalist und Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main.

Ein Vortrag von Gerhard Schmidt am 08.11.2015 in Frankfurt am Main ist als Audio-Aufzeichnung im mp3-Format mit begleitender Präsentation abrufbar. Klicken Sie bitte hier. Co-Autor Herbert Stelz moderierte die Veranstaltung.