Anmerkungen zu einer abstrusen Debatte

Gerd Bedszent

Vor der Krise ist nach der Krise?

Bis vor zehn Jahren schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Die Wirtschaft florierte. Die Linke war marginalisiert. Die einstmals starke Ökologiebewegung hatte sich weitgehend in das System einbinden lassen. Bösartigen Diktatoren und internationalen Terrororganisationen wurde militärisch das Maul gestopft. Der Kapitalismus hatte mal wieder gesiegt. Wirklich?

Seit den 1970er Jahren klaffen Realökonomie und Finanzwirtschaft immer deutlicher auseinander. Gigantische Vermögenswerte vagabundieren anlagehungrig rund um den Globus, suchen verzweifelt nach profitträchtigen Investitionsmöglichkeiten und bilden mangels dieser immer größer werdende Finanzblasen, die alle paar Jahren mit einem mächtigen Knall zerplatzen, dabei Heerscharen weinender und sich betrogen wähnender Anlieger hinterlassen.

Gleichzeitig sind – ebenfalls seitden 1970er Jahren – private und Staatsschulden ins fast Unermessliche gestiegen. Erstere sind das Kennzeichen eines strukturellen Sockels von Armutsbevölkerung – auch in den entwickelten Industriestaaten. Schon in den noch vergleichsweise „reichen“ 1990er Jahren gab es in der Bundesrepublik jährlich hundertertausende Zwangsvollstreckungen. Nachdem eine rot-grüne Regierung kurz vor der Jahrtausendwende die repressiven Hartz-Gesetze durchgepeitscht hatte, ist diese Armut noch einmal massiv angewachsen. Und jede Privatinsolvenz, jede Vollstreckung eines Gerichtsvollziehers hinterlässt eine verbitterte Familie, die nicht selten das raffgierige Finanzkapital für ihre Notlage verantwortlich macht.

Die Wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2010 schien das schwelende Unbehagen gegenüber dem immer stärker wachsenden  Finanzsektor zu bestätigen. Als Folge des Platzens einer gigantischen Immobilienblase (Subprimekrise) gerieten zahlreiche Geldinstitute ins Wanken und drohten, das durch unzählige gemeinsame Geschäfte und gegenseitige Kreditvergaben ineinander verschachtelte Finanzsystem insgesamt in einen bodenlosen Abgrund zu reißen.

Über die kriminellen Begleiterscheinungen der Subprimekrise ist schon viel geschrieben worden. Dieser Finanzcrash war keineswegs die erste Krise globalen Ausmaßes, die das kapitalistische Wirtschaftssystem ernsthaft erschütterte, und wird ganz gewiss auch nicht die letzte sein. Ihr Ausmaß war aber schon ungewöhnlich. In den Chefetagen der Wirtschaft herrschte nackte Panik und selbst bekennend marktradikale Hardliner schrien plötzlich lautstark nach wirtschaftlichen Interventionen des Staates. Welche dann prompt erfolgten.

Bekanntlich krachte das globale Finanzsystem damals nicht zusammen. Verschiedene Banken hatte man zwar in den Orkus fallen lassen, die Mehrzahl hingegen finanziell gestützt. Die zuvor durchaus schon vorhandene Überschuldung der USA und anderer Staaten erreichte aber unter anderem durch diese „Bankenrettung“ geradezu irrwitzige Ausmaße. Bei verschiedenen Volkswirtschaften trat eine absurde Disproportion zwischen dem überdimensionierten Finanzsektor und einer vergleichsweise winzigen Realwirtschaft zutage. Die übliche Rezeptur neoliberaler Grausamkeiten gegenüber der Bevölkerung verschuldeter Staaten – Kürzung von Sozialleistungen sowie rabiate „Verschlankung“ der Staatsbürokratie – konnte bei einem solchen Grad von Überschuldung kaum Wirkung zeigen.

Was  nun?  Schuldenstreichung? Das nun gerade nicht. Eine solche würde – meinten Wirtschaftsgurus und Regierungen nahezu einhellig – die betreffenden Kreditgeber empfindlich schädigen und das globale Finanzsystem erneut erschüttern. Und da Staatskredit und spekulatives Finanzkapital untrennbar ineinander verwoben sind, könnte ein Entwertungsschock des Finanzüberbaus auch die Staatspapiere mit in den Abgrund reißen und den Haushalt der betreffenden Volkswirtschaften in ein unbeschreibliches Chaos stürzen. Da half scheinbar nur eine Kombination aus Kreditierung von an sich nicht mehr kreditwürdigen Volkswirtschaften und dem Anlegen finanzpolitischer Daumenschrauben. Letzteres traf hauptsächlich die Ärmsten. Die Bevölkerung Griechenlands hat es mittlerweile wohl schon aufgegeben, die Anzahl der Rentenkürzungen zu zählen, die sie auf Weisung von EU, Weltbank  und IWF über sich ergehen lassen musste und immer noch muss.

Natürlich herrschte und herrscht allgemeine Empörung darüber, dass Regierungen, die im Namen der „schwarzen Null“ die rabiatesten Sparmaßnahmen und Streichorgien im Sozialbereich durchziehen, im Rahmen der Krisenbewältigung gigantische Summen in den unergründlichen Rachen insolventer Finanzinstitute warfen. Als Folge der Krise hatte der Neoliberalismus jedenfalls ideologisch abgewirtschaftet. Auch wenn das Personal von Regierungen und diversen internationalen Organisationen sofort nach Stabilisierung der Lage wieder in sein gewohntes Vokabular verfiel und die Exekution sozialer Grausamkeiten fortsetzte.

Ist die nächste Krise im Anmarsch? Ganz bestimmt. Strukturell  geändert hat sich am kapitalistischen Wirtschaftssystem gar nichts. Kleines Beispiel: Unter Barack Obama, auf dem Höhepunkt der Krise zum Präsidenten der USA gewählt, wurde durch die Verabschiedung einesdiesbezüglichen Gesetzes die US-Finanzwirtschaft einer – allerdings äußerst zaghaft gehandhabten – staatlichen Kontrolle unterworfen. Donald Trump und sein Anhang sahen darin einen unzulässigen Eingriff ins Wirtschaftsgeschehen. Trump kündigte während des Wahlkampfes an, die Finanzindustrie wieder vollständig zu deregulieren. Und wurde ungeachtet dieser Ankündigung gewählt. Im Februar dieses Jahres unterzeichnete er ein Dekret über die Überprüfung und Anfechtung besagten Gesetzes.

Gierige Banker, saubere Realwirtschaft?

Unbehagen über den ins Gigantische wachsenden Finanzsektor hatte sich – wie schon oft – zunächst in der Literatur geäußert. So beispielsweise im 1991 erschienenen Roman „American Psycho“ des US-amerikanischen Autors Bret Easton Ellis. Ein tagsüber jung-dynamisch agierender Wall-Street-Banker schlachtet nachts auf bestialische Art und Weise junge Frauen ab. Sind Finanzhaie allesamt sadistische Serienmörder? Der Bestseller wurde skandalisiert – durchaus zu Unrecht. Denn die drastisch geschilderten grausamen Morde erwiesen sich am Ende der Handlung als Phantasieprodukt des Romanhelden. Dieser hatte sich im Unterbewusstsein gegen den Stumpfsinn und die Tristesse des Bankerdaseins aufgelehnt, als Folge dann Traum und Realität durcheinandergebracht.

Interessant sind die medialen Reaktionen auf den letzten Finanzcrash. Wurde das kapitalistische Wirtschaftssystem insgesamt hinterfragt? Aber mitnichten. Gesucht wurden vermeintlich und tatsächlich Schuldige, die man dem Volkszorn zum Fraße vorwerfen konnte. Wird wer eignete sich dafür bestens? Kann jemand Banker leiden? Natürlich nicht. Na also…

Schon auf dem Höhepunkt der Krise stand demzufolge fest, wer das Debakel verursacht  hatte: Gierige Finanzhaie, die bei hochspekulativen und kriminellen Geschäften die Gelder ihrer Kunden verzockt und sich selbst im Gegenzug riesige Gehälter und Boni genehmigt hatten. Und mitschuldig war natürlich eine unfähige Politik, die es verabsäumt hatte, die Spekulanten und Bankräuber rechtzeitig an die Kandare zu nehmen.

Natürlich handelt es sich bei dem Führungspersonal von Finanzunternehmen zumeist um keine sympathischen  Persönlichkeiten. Um in eine solche Position zu gelangen, muss man schon entweder eine gehörige Portion an Intrigantentum, Brutalität und Menschenverachtung an den Tag legen oder aber mit einem goldenen Löffel im Mund geboren sein und von daher über die nötigen Beziehungen verfügen. Und natürlich sind solche Figuren zuvorderst daran interessiert, sich selbst die Taschen zu füllen. Aber wer ist das nicht? Wir haben Kapitalismus.

In diesem Zusammenhang sei hier eine kleine Anekdote zur geistigen Verfasstheit unserer Wirtschaftselite wiedergegeben: Kurz nach der Jahrtausendwende geisterten die Ergebnisse einer Studie durch die Massenmedien. Psychologen hatten herausgefunden, dass soziopathisch veranlagte Personen beste Voraussetzungen dafür besitzen, in höheren Positionen der Wirtschaft Karriere zu machen. Der Wirtschaft wohlgemerkt, gemeint war nicht nur das Bankwesen. „Gewalttätige Irre erobern  die Chefetagen!“ titelte  damals die Regenbogenpresse. Folgen hatte diese Studie natürlich nicht.

Hier geht es aber primär nicht um Charaktereigenschaften und persönliche Qualitäten des Führungspersonals von Großunternehmen. Es geht um die strukturelle Verfasstheit der Finanzwirtschaft. Diese ist Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft und unterliegt demzufolge der Marktkonkurrenz. Banken investieren Riesensummen in die Realwirtschaft und beziehen daraus Profit. Und Großunternehmen parken ihre Gewinne,  so sie diese in Gestalt von Investitionen nicht gerade selbst benötigen, auf Bankkonten. Realwirtschaft und Finanzwirtschaft sind untrennbar miteinander verbunden.

Die Verflechtung insbesondere des Finanzsektors in kriminelle Geschäftemacherei  ist  bekannt.  Banker  haben sich nie ernsthaft davor gescheut, als gutbezahlte   Dienstleister   die   Gelder von Mafiosi, blutigen Diktatoren, Drogenkartellen und ganz gewöhnlichen Banditen profitträchtig zu verwalten. Dennoch ist es bezeichnend, dass immer wieder in Krisensituationen die Volksseele hochkocht, der Zorn von angeblich oder tatsächlich Geschädigten sich ausschließlich gegen „Spekulanten“, „gierige Banker“ und das „raffende Kapital“ wendet. Ein Banker, der die Gelder von Drogenbaronen wäscht und Regierungen, die  unvorsichtigerweise in die Schuldenfalle getappt sind, zu Streichorgien  im  Sozialbereich nötigt, ist natürlich – rein von der Persönlichkeit her – ein Schweinehund. Aber ist er tatsächlich – falls man den Begriff steigern kann: krimineller als etwa ein Geschäftsführer, der im Sinne der Profitmaximierung gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsstandards gröblich missachtet und als Folge seine schlechtbezahlten Arbeiterinnen lebendig verbrennen lässt? So etwas ist in den letzten Jahren in der asiatischen Textilindustrie mehrmals geschehen. Die weltweite Empörung hielt in diesen Fällen sehr in Grenzen und verebbte schnell wieder.

Haben kriminelle Machenschaften ihre Ursache im gewissenlosen Charakter der jeweils agierenden Banker und Finanzhaie? Oder sind diese letztlich auch nur Getriebene eines Systems, in dem wir alle eingebunden sind? Zur Erinnerung: Der Kapitalismus unterscheidet sich von nicht-kapitalistischen  Gesellschaften durch den Kapitalfetisch. Und ein Fetisch zeichnet sich dadurch aus, dass er dessen Träger zu irrationalem Handeln zwingt – völlig unabhängig von der Person des oder der Betroffenen. Macht ein Unternehmen also irgendwelche kriminellen Schweinereien nicht mit, dann werden sie im Regelfall von einer anderen Firma begangen. Es sei denn, der Staat in Gestalt von Polizei und Justiz greift massiv ein. Was er aber meist nicht tut.

Hinweis: Karl Marx hat sich in seinen Werken nie davor gescheut, die Träger des  Finanz- und Spekulationskapitals als „Gauner“ und „Börsenwölfe“ zu titulieren. Und sein Kumpel Friedrich Engels schrieb in einem seiner ganz frühen Texte von  der „Unsittlichkeit des Zinsverleihens“. Diese Kritik der beiden Altväter der Arbeiterbewegung bewegte sich aber stets im Rahmen ihrer Analyse der „scheußlichen Unsittlichkeit“ des kapitalistischen Systems als Ganzes.

Zinstragendes Kapital als parasitäres Kapital?

Die Abneigung gegen Zinswirtschaft ist alt – schon in der Bibel finden sich entsprechende Passagen. Wenn man in einer Notlage steckt, aus der man sich aus eigener Kraft nicht befreien kann, leiht man sich natürlich Geld oder Sachwerte. Aber wer gibt das Geliehene schon gern zurück? Und dann auch noch mehr, als man sich zuvor geliehen hat?

Die katholische Kirche hat jedenfalls schon früh ein Verbot der Zinsnahme erlassen, propagierte stattdessen lieber Wohltätigkeit und die Gabe von Almosen als gottgefällig. Da aber Kreditaufnahme damals ein schon gelegentlich notwendiger Bestandteil des Handels war, mussten Kaufleute und Handwerker auf nicht-katholische Bankhäuser ausweichen. Was einen gewissen

Martin Luther im 16. Jahrhundert zu wütenden Ausfällen gegen jüdische Geldverleiher veranlasste – eine Steilvorlage für Antisemiten der Neuzeit. Dass jüdische Geschäftsleute sich deshalb vorrangig auf das Finanzwesen warfen, weil man sie zuvor mittels diskriminierender Gesetze von großen Teilen des „normalen“ Wirtschaftslebens ausgeschlossen hatte, kam in der kruden Gedankenwelt Luthers und anderer notorischer Judenhasser nicht vor.

Tatsächlich ist das Kreditwesen unter kapitalistischen Bedingungen nichts anderes als eine bezahlte Dienstleistung, eine zwischenzeitliche Bereitstellung von notwendigen Geldsummen. Und Zins ist nichts anderes als der Preis für diese Dienstleistung. Kreditwesen und Zins sind – wie schon gesagt – älter als der Kapitalismus. Wahrscheinlich sind sie sogar älter als die Erfindung des allgemeinen Tauschäquivalentes „Geld“. Letzteres vereinfachte die Zinsnahme allerdings wesentlich.

Der Philosoph Robert Kurz schrieb dazu: „Die vorindustrielle Agrargesellschaft kannte wohl das Kaufmanns- und das zinstragende Kapital als Nischenformen, aber keine produktive Kapitalverwertung; es gab Märkte, aber keine Marktwirtschaft; und es gab Geld, aber keine Geldwirtschaft.“  (Kurz 1995, Seite 29) Der entscheidende Unterschied zwischen dem Kapitalismus und vormodernen Gesellschaften bestand in der Herausbildung des Kapitalfetischs: dem  Zwang  zur  Geldvermehrung  nur um der Geldvermehrung willen. Um Kapital zu vermehren, bedurfte es dann einer Investition. Demzufolge explodierte mit Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise das zuvor nur in Nischen vor sich hinvegetierende Kreditwesen. Wenn ein Kaufmann oder Fabrikant die Mittel für eine Investition nicht hatte, musste er sie sich leihen und dafür den zuvor vereinbarten Preis bezahlen. Das Zinsverbot wurde mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Anachronismus.

Kreditiert wurde in der frühkapitalistischen Phase zunächst die militärische Hochrüstung der frühen Nationalstaaten.  Kreditnehmer war hauptsächlich der damals entstehende Staatsapparat. Als Sicherheit für die Rückzahlung des Kredites galten Steuern, Zölle und sonstige Einnahmequellen des jeweiligen Staatswesens. Im Zuge der industriellen Revolution expandierte die massenhafte Kreditvergabe dann auch in zivile Sektoren der entstehenden Volkswirtschaften und damit in die Privatwirtschaft. Und in Gestalt von Verbraucherkrediten erreichte sie schließlich auch den Konsumenten.

Woraus speist sich nun der Zins? Handelt es sich beim Finanzkapital tatsächlich um „schmarotzendes Kapital“, einen „blutsaugerischen Vampir“, wie es immer wieder durch diverse Veröffentlichungen geistert? Karl Marx, der sich im 3. Band des „Kapital“  ausführlich mit dieser Frage beschäftigt hat, beschrieb den Zins als „begrifflose Form des Kapitals“ (Marx, Seite 428). An anderer Stelle schreibt er: „Da der Zins bloß ein Teil des Profits ist, der nach unserer bisherigen Voraussetzung vom industriellen Kapitalisten an den Geldkapitalisten zu zahlen ist, so erscheint als Maximalgrenze des Zinses der Profit selbst, wo der Teil, der dem fungierenden Kapitalisten zufiele, = 0 wäre.“ (Marx, Seite 391)

Damit hat Marx die Funktion des Zinses als Bestandteil des Profites im Rahmen kapitalistischen Wirtschaftens auf den Punkt gebracht. Dem Finanzdienstleister als Kreditgeber ist es allerdings egal, wieviel Rest-Profit dem eigentlichen Unternehmer am Ende noch übrig bleibt. Konflikte zwischen Banken und Unternehmensmanagements sind tatsächlich nicht anderes als Verteilungskämpfe um den Anteil am zu erwartenden Gewinn. Und wenn am Ende der realisierte Profit unter der zuvor vereinbarten Zinsrate liegt, hat der Kapitalist ein Problem, genannt Verlust. Einen solchen manchmal einzufahren, ist halt sein unternehmerisches Risiko.

Kleineren Unternehmen oder solchen, die sich auf technisches Neuland begeben, droht ganz besonders die Gefahr, dauerhaft Verluste einzufahren und zur Bedienung  von  Krediten  neue  Kredite aufnehmen zu müssen. Sie stecken dann in einer sogenannten Schuldenfalle. Eine Insolvenz ist die häufige Folge. Schon früh machten insbesondere Kleinproduzenten für ihre wirtschaftliche  Misere  das  angeblich  parasitäre „raffende Kapital“ verantwortlich, welches ihnen als Organisator der materiellen Produktion das gesamte Risiko aufbürde und sich am geforderten Zinssatz schamlos bereichere.

Ausgeblendet wurde dabei jeweils, dass eine kreditgebende Bank ebenfalls ein, wenn auch im Regelfall geringes, unternehmerisches Risiko trägt. Geht ein Kreditnehmer in Insolvenz, kann die Bank sich zwar aus der Konkursmasse bedienen. Was aber, wenn der Kreditnehmer völlig überschuldet ist und die angehäuften Schulden den Wert der Konkursmasse übersteigen? Wo nichts ist, kann man nichts holen… Auch Banken können also als Folge ganz normaler Kreditgeschäfte Verluste einfahren.

Der Banker arbeitet im Regelfall zwar gar nicht mit eigenem Kapital, sondern mit dem seiner Kunden. Da die Bank aber die Vermittlungsmacht über das Geldvermögen besitzt, speist sie im Regelfall die kleinen Sparer mit winzigen Beträgen ab. Auch dies ist bekannt und trägt nicht gerade zur Beliebtheit der Banken bei.

Karl Marx hat sich schon früh mit der auf das Problem der Geldwirtschaft und des Zinses verkürzten Kapitalismuskritik des anarchistischen Theoretikers Pierre Joseph Proudhon auseinandergesetzt.  Dass  dessen  Forderung  nach der „Brechung der Zinsknechtschaft“ später von den Nazis aufgegriffen und zu Legitimation der Enteignung und Ermordung  der jüdischen  Bevölkerung herhalten musste, konnte Marx natürlich nicht wissen. Als Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 strömten jedenfalls massenhaft ruinierte Kleinunternehmer und einkommenslose Arbeiter in die SA, forderten lautstark eine Enteignung jüdischer Banken. Robert Kurz schrieb dazu: „Der Antisemitismus will also unter Beibehaltung der Geldform deren unheimliche entsinnlichte Inhaltslosigkeit als angebliche ‚jüdische Eigenschaft‘ definieren und damit ‚den Juden’ als Sündenböcken aufhalsen. Er ist die irrationale immanente Reaktion auf die Irrationalität des Waren- und Geldfetischismus“. (Kurz 2013, S. 70 (2))

Am Bankensystem und dem Finanzkapital insgesamt haben die Nazis nach ihrer Machtübernahme  im Jahre 1933 übrigens nie gerüttelt. Natürlich nicht, denn diese mussten dem deutschen Militär ja die erforderlichen Mittel für ihren  Eroberungskrieg  vorstrecken. Und dieser Krieg war letztlich nur ein gigantischer Raubzug zugunsten des deutschen Kapitals. Des gesamten deutschen Kapitals wohlgemerkt, auch des Finanzkapitals.

Motor der Kriminalität

Nach den Schreckensbildern aus den Vernichtungslagern  der Nazis schien der Antisemitismus und damit auch die Idee vom parasitären Charakter des „raffenden Kapitals“ erst einmal obsolet zu sein. Natürlich, nach dem Krieg herrschte eine   Aufbruchsstimmung, die fordistische Massenproduktion triumphierte, eine Phase allgemeinen Wohlstandes schien sich anzukündigen. Vermutlich werden die 1960er und 1970er Jahre des vorigen Jahrhunderts irgendwann einmal als Höhepunkt der kapitalistischen Moderne insgesamt eingestuft werden.

Der Aufschwung ebbte dann aber schnell wieder ab. Der Fordismus als tragendes Element kapitalistischer Massenproduktion hatte sich erschöpft. Die ab den 1930er Jahren vorherrschende Ideologie des Keynesianismus, welche einen  schuldenfinanzierten  Ausstieg aus der Krise propagiert und auch erreicht hatte,  wurde ab den 1970er Jahren zielgerichtet demontiert. Eine neue Generation  von  Ökonomen  forderte eine Profitmaximierung durch rabiate Durchrationalisierung aller Verwaltungen und Industrieunternehmen. Als sich dann auch noch in Gestalt der mikro- elektronischen Revolution der nächste Modernisierungsschub ankündigte, lieferte dieser die technischen Voraussetzungen für den angestrebten Arbeitskräfteabbau. Der  Massenkonsum in den Industriestaaten schrumpft seitdem. Eine Erschließung neuer Märkte findet nur noch in geringem Umfang statt, weil es solche kaum noch gibt. Kapitalismus basiert auf schrankenloser  Expansion.  Aber  der  Planet  Erde hat nur einen begrenzen Umfang. Und seine Ökosphäre ist nur in begrenztem Maße belastbar.

Gewinne werden freilich immer noch gemacht. Aber das Kapital hat ein Anlageproblem. Es gibt kaum noch neue Industrien, die man auf grüner Wiese aus dem Boden stampfen kann. Das Geld wurde – wie Robert Kurz in seiner Analyse des modernen Kasinokapitalismus meinte – arbeitslos. Und wohin fließt anlagehungriges Kapital, wenn eine Investition in die Realwirtschaft  keine hinreichenden Gewinne verspricht? Natürlich in den Finanzsektor. In den letzten Jahrzehnten ist eine zunehmende Entkoppelung der Finanzwirtschaft von der realen Kapitalakkumulation zu verzeichnen. Freiwerdende Gelder von Großunternehmen werden in ständig wachsendem Umfang auf Bankkonten geparkt oder diversen Finanzdienstleistern anvertraut. Genau dies ist der Hintergrund für den in den letzten Jahrzenten gigantisch angewachsenen Finanzsektor. Und die immer wieder durch die Medien geisternden Vorwürfe in Richtung der superreichen Oberschicht, dass sie ihre Gelder lieber in dubiose Spekulationsgeschäfte und andere Gaunereien  steckt,  anstatt sie in die Realwirtschaft zu akkumulieren, sind letztlich eine groteske Verdrehung von Ursache und Wirkung.

Kreditwesen und schwindende Staatlichkeit

Die Kreditierung von Staaten und Herrschaftsgebilden durch Geldleute und Banken ist – wie bereits geschildert – alt. Während des Absolutismus gewährten die Herrscher im Gegenzug für Kredite den Bankhäusern nicht selten sogar das Recht zum Einziehen von Steuern – damals faktisch eine Lizenz zum Gelddrucken. Und während der kolonialen Landnahme in Süd- und Mittelamerika übertrug der hochverschuldete spanische König Karl V. vorübergehend dem Bankhaus der Welser seine Besitzrechte an einem ganzen Land – der heutigen Republik Venezuela.

Die Verschuldung moderner Staaten ins Unermessliche erfolgte allerdings erst während der letzten Jahrzehnte. Zunächst mussten die von keynesianischen Stabilisierungsprogrammen hinterlassenen Schulden als Begründung für neoliberale Sparprogramme herhalten. Der Neoliberalismus erwies sich dann als volkswirtschaftliche Mogelpackung – selbst unter bekennend marktradikalen Regierungen stieg die Verschuldung entwickelter Industriestaaten immer weiter. Und  zahlreiche periphere Staaten sind derzeit faktisch zahlungsunfähig. Wie das? Alles ein Verschulden der Banken?

Auch der Staat ist – rein wirtschaftlich gesehen – so etwas wie ein Unternehmen. Der Staatsapparat betreibt die auf seinem Territorium vorhandene Infrastruktur und baut sie bei Bedarf weiter aus. Im Gegenzug erhebt er von der Wirtschaft, die diese Infrastruktur nutzt, Steuern und andere Abgaben. Mit schrumpfender Wirtschaft schrumpfen aber auch die entrichteten Steuern. Sind die Einnahmen des Staates irgendwann einmal niedriger als seine Ausgaben, muss er die Haushaltslöcher mit Krediten stopfen. Und übersteigt die Höhe der Schulden einen bestimmten Grad, gilt der Staat als nicht mehr kreditwürdig.

Neoliberale Hardliner machen für eine solche Situation mit ermüdender Regelmäßigkeit „überhöhten Staatskonsum“ verantwortlich. Dass sie selbst durch Kampagnen gegen eine angeblich zu hohe Besteuerung von Unternehmen das jeweilige Finanzdesaster nach Kräften befördert haben, wird dabei verschwiegen. Meist werden die betreffenden Staaten unter dem Druck internationaler Organisationen zu einem rabiaten Rückbau ihrer Infrastruktur und damit zur Kostenminimierung gezwungen. Mitsamt allen wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Zur Infrastruktur eines Staates gehören übrigens auch Polizei und Justiz. Nicht mehr vorhandene Polizisten können dann keine Kriminellen mehr jagen, miserabel bezahlte Richter neigen dann dazu, vor Urteilsverkündung ihre Hand auszustrecken… Welcher Unternehmer mit einigermaßen klarem Verstand investiert in eine Region ohne funktionierendes Transportwesen, ohne Wasser- und Stromversorgung, dafür mit einer verzweifelten analphabetischen Bevölkerung, deren einzige sichere Einnahmequelle der kriminelle Untergrund ist?

Die radikale Rechte sieht in der zunehmenden Erosion des modernen Staatswesens ausschließlich finstere Machenschaften fieser Finanzmagnaten. Handelte und handelt es sich bei bankenkritischen Presse- und Buchveröffentlichungen um Bestandteile einer neuen Welle von Antisemitismus? Ja und nein. Die meisten Autoren würden einen diesbezüglichen Vorwurf ganz sicher zurückweisen. Der Begriff „jüdisches Kapital“ wurde und wird von ihnen schließlich peinlichst vermieden; nur paranoide Verschwörungstheoretiker  und  bekennende  Rechtsextreme üben sich in offener Holocaustleugnung und Phantasien von einem Bankenkomplott zwecks Erringung der jüdischen Weltherrschaft. Eine Kapitalismuskritik, die nur auf das Finanzwesen abhebt, bedient allerdings rein objektiv gesehen antisemitische Klischeevorstellungen, auch wenn ihre Träger gar keine Antisemiten sind.

Im Gefolge der Krise ist weltweit die extreme Rechte im Vormarsch, ob in Gestalt von islamistischen Hasspredigern, militanten Hindunationalisten oder unverbesserlichen Hakenkreuz-Fetischisten. Und die Mehrzahl dieser faschistoiden Ideologien hebt  darauf ab, eine vergangene Gesellschaft wieder herzustellen, in der die Leute arm, aber glücklich lebten, weil sie noch nicht von niederträchtigen Wucherern und Bankiers ausgesogen wurden. Eine solche Gesellschaft gab es zwar nie und kann folglich auch nicht wiederhergestellt werden. Aber in einer zunehmend irrational agierenden Gesellschaft finden auch die irrwitzigsten  Theorien ihre Anhänger. Und wie sieht dann die Praxis aus? In Regionen mit nicht mehr funktionierender Staatsgewalt neigen Unternehmen immer mehr dazu, sich dem Schutz faschistoider Milizen anzuvertrauen – so beispielsweise in der bürgerkriegsgeschüttelten  Ost-Ukraine, wo örtliche Oligarchen ganz offen rechtsradikale „Freiwilligeneinheiten“ ausrüsten und finanzieren.

Ist der Verfall von Staatlichkeit die Ursache für das Anwachsen der Wirtschaftskriminalität? Zum Teil sicherlich. Natürlich ermöglicht es die weltweite Verflechtung der Finanzwirtschaft, sich weitgehend den nationalstaatlichen Regularien zu entziehen und kriminelle Geschäfte dort abzuwickeln, wo es eine funktionierende Justiz und Polizei nicht mehr gibt. Und die spekulative Blasenökonomie, von der die Finanzwirtschaft in nicht unbeträchtlichem Umfang lebt, ermöglicht ebenfalls haarsträubende kriminelle Bubenstücke, die nur in den seltensten Fällen vor einem Richtertisch landen.

Aber ist für all dies der Zins verantwortlich,  der  ganz  ordinäre  Preis  für eine ganz ordinäre Dienstleistung? Sind nur die Banken kriminell? Handelt es sich  bei dem  Management  industrieller Großunternehmen  um altruistische Kirchgänger, die nie einen unehrlich erworbenen Cent anrühren würden?

Oder ist die Ursache für das Anwachsen der Wirtschaftskriminalität der dem Kapitalismus innewohnende Zwang zur Kapitalvermehrung? Dies wiederum hieße, dass das Kapital mangels profitträchtiger  Anlagemöglichkeiten im legalen Sektor der Volkswirtschaft zunehmend auf den illegalen Sektor ausweicht. Die dem Kapitalismus von Anbeginn innewohnende räuberische Tendenz wird also dann stärker, wenn das Kapital sich auf legalem Wege nicht mehr hinreichend vermehren kann. Mit dieser Situation haben wir es wohl derzeit zu tun.

Und die Finanzwirtschaft? Die ist bei der Durchführung krimineller Geschäftemacherei ein durchaus nützliches Instrument. Nicht mehr. Und nicht weniger.

Verwendete Literatur:

  • Engels, Friedrich: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in: Karl Marx/ Friedrich Engels „Werke“, Band 1, Dietz Verlag, Berlin (DDR), 1976
  • Hudson, Michael:  „Der  Sektor.  Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört“, Klett-Cotta, Stuttgart 2016
  • Kurz, Robert: „Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus“, Laika Verlag, Hamburg 2013 (2)
  • Kurz, Robert: „Die Himmelfahrt des Geldes“, in: „Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft“, Ausgabe 16/17, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1995
  • Kurz, Robert: „Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert“, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2001
  • Kurz, Robert: „Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999
  • Kurz, Robert: „Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang“, Edition Tiamat, Berlin, 2013 (1)
  • Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, Band 3, Dietz Verlag, Berlin (DDR), 1951
  • Müller, Leo: „Bankräuber. Wie kriminelle Manager und unfähige Politiker uns in den Ruin treiben“, Econ Verlag, Berlin 2010

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.