Gerd Bedszent

„Der Treppenwitz, dass mit AfD und FDP zwei marktradikale Parteien um dieselbe Wählerschicht buhlten und am Ende beide knapp an der 5 %-Hürde scheiterten, wird sich schwerlich wiederholen.“ Diese meine Vermutung, abgedruckt in BIG Business Crime Nr. 4/2013 kurz nach der letzten Bundestagswahl, hat sich leider bestätigt. Dass beide genannte Parteien bei der diesjährigen Wahl ihr Ergebnis jeweils mehr als verdoppeln könnten, die AfD sogar als drittstärkste Partei in den Bundestag einziehen würde, habe ich allerdings nicht vorausgesehen.

In den letzten Jahren hatte sich in Deutschland die CDU unter der weitgehend unangefochtenen Alleinherrschaft von Angela Merkel als Garant der Stabilität profiliert. Profiteure dieser Stabilität, dieses nicht hinterfragten „Weiter so“ sind die international agierenden Großunternehmen. Diese konnten in den letzten Jahren und Jahrzehnten die weltweite soziale Ausdifferenzierung weiter vorantreiben. Auch in Deutschland hat sich der Abstand zwischen einer kleinen Gruppe von Superreichen samt ihrer hochbezahlten Handlanger und einer immer größer werdenden Schicht von Armen wesentlich verbreitert. Vertieft hat sich auch die soziale Kluft zwischen den hochindustrialisierten Kerngebieten der Europäischen Union – zuvorderst Deutschland – und ihren immer weiter verarmenden Randstaaten im Süden und Osten. Und erst recht verbreitert hat sich der Abstand zwischen einer Handvoll immer noch wirtschaftlich florierender Industrieregionen und den zunehmend in Hunger, Armut und Bürgerkriegschaos versinkenden Gebieten in der Peripherie.

Die Jahrhunderte andauernde Expansion des kapitalistischen Systems ist an ihre Grenzen gestoßen. Die von anlagehungrigen Kapitalgruppen vorangetriebene Eroberung noch nicht erschlossener Nischen in den hintersten Winkeln des Globus funktioniert nur noch mittels rohester Gewalt, ohne Rücksicht auf soziale Folgen. Zahlreiche einstmals funktionierende Nationalökonomien sind mittlerweile im Zuge von Militäreinsätzen oder als Folge der segensreichen Tätigkeit von westlicherseits hochgerüsteten Ethno-Milizen und Banden durchgeknallter Gotteskrieger zusammengebrochen; den Siegern blieben zum Fleddern nur schäbige Reste. Große Teile der Bevölkerung der von Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten Regionen flüchten in Richtung der noch funktionierenden kapitalistischen Zentren, wo sie zwar als miserabel entlohnte Billigarbeiter akzeptiert, als mögliche Nutznießer  sozialstaatlicher Umverteilungsprogramme hingegen höchst unwillkommen sind.

Die sogenannte Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die mit zeitlicher Verzögerung den Wahlsieg der marktradikalen Parteien ermöglichte, war in Wirklichkeit nur ein (vergleichsweise winziger) Bestandteil der die gesamte Erde umfassenden Sozialkrise. Einer weltweiten Krise, die im Rahmen des kapitalistischen Systems nicht lösbar ist, deren Folgen höchstens etwas abgemildert werden können. Und Kanzlerin Angela Merkel für diese Krise verantwortlich zu machen, wie es derzeit häufig geschieht, ist in etwa ebenso intelligent wie die immer wieder von neostalinistischen Hardlinern aufgestellte Behauptung, ein gewisser Günter Schabowski habe 1989 in einem Moment geistiger Verwirrung den Untergang des osteuropäischen Sozialismusmodells herbeigeführt. Auch in der kruden Gedankenwelt marktradikaler Hardliner resultieren Krisen stets aus dem Fehlverhalten regierenden Personals. Das System kapitalistischer Warenproduktion wird als perfekt erachtet; man müsse es nur richtig handhaben und ihm nach Möglichkeit freie Bahn lassen.

In dem Maße, wie Angela Merkel sich von den Medien als eine Art barmherzige Mutter Teresa vorführen ließ, die sie ganz gewiss nicht ist, kam ihr ein Teil der potenziellen Wählerschaft abhanden. Jung-dynamische Möchtegern-Aufsteiger betrachten die CDU nun als sozialdemokratisch unterwandert und wählten stattdessen die zwischenzeitlich im politischen Orkus versackte FDP. Andere, bereits heftig von Krisen- und Abstiegsängsten geplagte Teile des Kleinbürgertums entschieden sich für eine noch radikalere Variante.

Halbwegs intelligente Menschen, die im Vorfeld der Wahl tatsächlich einmal Unterlagen der AfD zur Kenntnis nahmen, dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit Anfälle von Schüttelfrost bekommen haben. Unter anderem wird in solchen Pamphleten der menschengemachte Klimawandel als „unbewiesene Propaganda“ bezeichnet; er habe lediglich das Ziel, staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben zu rechtfertigen. Weiter heißt es, die sogenannte Energiewende diene der „Zerstörung der deutschen Wirtschaftskraft“ und beabsichtige eine „Vernichtung des Mittelstandes“. Die staatliche Unterstützung für Migranten bedeute eine „Enteignung der Einheimischen“. Mit dem Verbleib in der Europäischen Union drohe ein diktatorischer Zentralstaat, der in einer „sozialistischen Planwirtschaft“ münden könne. Die Euro-Währung sei ein „unseriöses Papiergeldsystem“, das eine galoppierende Verschuldung Deutschlands herbeiführe…

Übertreibe ich? Aber mitnichten. All diese Aussagen finden sich auf der Homepage eines westdeutschen Kreisverbandes der AfD unter der Überschrift: „Was will die AfD? – Kürze Übersicht über das Wichtgste“ (Schreibfehler im Original). Als Beleg für eine angeblich voranschreitende sozialistische Kommandoökonomie dient übrigens das unlängst ausgesprochene Verbot des Vertriebes der klassischen Glühlampe. Der Erguss eines Durchgeknallten? Oder gar ein Fake? Nein, die meisten dieser haarsträubenden Behauptungen finden sich, allerdings leicht abgemildert, auch in offiziellen Wahlkampfunterlagen dieser Partei. Allerdings war man dort bemüht, diese Programmpunkte orthographisch korrekt zu formulieren.

Ist der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ von einer obskuren Splittergruppe zu einer nicht unbedeutenden politischen Kraft am rechten Rand der Parteienlandschaft nun tatsächlich nur ein letztes Aufbäumen von Ewiggestrigen, die mit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht klargekommen sind? Stehen wir (wieder einmal) am Vorabend der Errichtung einer faschistoiden Diktatur? Oder ist dieser Wahlsieg am Ende nur Symptom einer ganz anderen Entwicklung, die weder in den großen Medien noch in den Foren der Netzgemeinden vorkommt?

Gleich vorab: Von der Errichtung einer klassischen faschistischen Diktatur kann derzeit überhaupt keine Rede sein. Eine solche Diktatur stand unter anderem im Deutschland der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts an, als es galt, mittels einer staatsfinanzierten Hochrüstung aus der Weltwirtschaftskrise herauszukommen und bei dieser Gelegenheit den Vorsprung anderer kapitalistischer Mächte aufzuholen. Ökonomisch bedeutete der Faschismus eine mit rabiaten Mitteln betriebene fordistische Zwangsformierung, der auch die noch bestehenden Reste des kaiserlich-wilhelminischen Ständestaates beseitigte. Die Folgen sind bekannt und müssen hier nicht noch einmal ausgeführt werden.

Das nach dem Automobilkönig und Antisemiten Henry Ford benannte Modell industrieller Massenproduktion ist mittlerweile Normalität und bedarf keiner gewaltsamen Durchsetzung mehr. Und die von der AfD und anderen Gruppierungen wildgewordener Kleinbürger – man denke dabei an die Tea-Party-Bewegung in den USA, die, unter anderen, Donald John Trump zur Präsidentschaft verhalf – verfochtene Programmatik läuft eben nicht auf eine staatfinanzierte Krisenbewältigung, sondern im Gegenteil auf eine Schwächung staatlicher Institutionen hinaus. Steuern sollen gesenkt, sozialstaatliche Umverteilungsprogramme gestrichen, jede Art gesetzlicher Einschränkung von Unternehmertätigkeit abgeschafft werden. Und wenn dieser Zielstellung elementare Erkenntnisse von Sozial- und Naturwissenschaft entgegenstehen, werden sie eben kurzerhand geleugnet. Was scheren mich künftige Folgen – ich will heute meinen Umsatz machen. So heißt es in der abstrusen Logik krisengeschüttelter Kleinunternehmer.

Handelt es sich bei der AfD und ihrem Umfeld um eine Bewegung harmloser Irrer, die sich irgendwann von selbst totläuft? Keinesfalls. Verrückt ist diese Bewegung schon, aber nicht wesentlich verrückter als die Art und Weise kapitalistischen Wirtschaftens insgesamt. Und ungefährlich sind diese Leute nicht, eher im Gegenteil. Ideologisch ist der in den letzten Jahren aufgekommene und in den großen Medien verharmlosend als „Populismus“ bezeichnete obskure Bürgerprotest zutiefst reaktionär, ein ideologischer Rückgriff auf die finstere Phase des Manchesterkapitalismus im 19. Jahrhundert, als der klassische bürgerliche Liberalismus das Erbe der staatsfinanzierten Aufbauphase der neuen Wirtschaftsordnung antrat. Also auf genau die Zeit, in der Friedrich Engels in einem seiner sehr frühen Texte die damals praktizierte „unmenschliche Grausamkeit“ des „Fabriksystems und der modernen Sklaverei“ anprangerte.

In der Vorstellungswelt der Anhänger rechter Parteien stellt sich diese Phase frühkapitalistischer Grausamkeiten allerdings als paradiesische Zeit dar. Es gab damals kaum sozialstaatliche Regularien, keinen Umwelt-, keinen Verbraucherschutz, nur schwache Gewerkschaften, Streiks und Proteste konnten kurzerhand niedergeknüppelt oder auch vom Militär zusammengeschossen werden… Verbunden ist dieser ideologische Rückgriff mit einer Idealisierung des frühkapitalistischen Nationalstaates und seiner nationalen Währungen. Internationale Institutionen gelten im Weltbild frustrierter AfD-Anhänger bestenfalls als unsinnig Steuergelder verschlingende bürokratische Monstren, Währungsverbünde als Instrumente gemeingefährlicher Finanzhaie, die als „volksfremd“ (wenn nicht gar „jüdisch“) imaginiert werden.

Das Bündnis durchdrehender Marktradikaler mit der äußersten Rechten unter Einschluss diverser Rassisten und Antisemiten ist dabei kein Zufall. All diese Strömungen sind sich einig in der Abschottung des eigenen Wirtschaftsraumes nach außen – Waren können zwar exportiert werden, Menschen sollen aber draußen bleiben. Dies ist keineswegs neu, sondern ein weiterer ideologischer Rückgriff auf die barbarische Frühphase des Kapitalismus.

Dass die klassische Nationalökonomie sich gegenwärtig zu großen Teilen im Weltmarkt aufgelöst hat, dass die meisten Großunternehmen mittels grenzüberschreitender Lieferanten- und Dienstleistungsverträge sowie gegenseitige Kreditvergaben untrennbar miteinander verflochten sind, dass ein „Zurückdrehen“ der Entwicklung der letzten Jahrzehnte hin zum bürgerlichen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts also gar nicht möglich ist, ohne einen gigantischen Wirtschaftscrash auszulösen – all das kommt in der einfach gestrickten Gedankenwelt dieser Nostalgiker eines funktionierenden Dampfmaschinen-Kapitalismus natürlich nicht vor. Und erst recht nicht, dass die Migrationswellen in Richtung der kapitalistischen Zentren meist eine Folge wirtschaftlicher Prozesse sind, die ihren Ursprung in ebendiesen Zentren haben. Sie können gewaltsam ausgebremst werden, nicht aber verhindert. Jedenfalls nicht, ohne an den Grundfesten kapitalistischen Wirtschaftens zu rütteln.

Natürlich ist eine Wiederherstellung des klassischen Nationalstaates nicht die einzige ideologische Schnittmenge zwischen dem rückwärtsgewandten Flügel der Marktradikalen und den bekennenden Hitler-Fetischisten. Beide ideologische Strömungen beruhen auf Entsolidarisierung und Zwang. Die Nazis hatten in ihrer 12 Jahre andauernden Herrschaft zwar eine „deutsche Volkgemeinschaft“ propagiert, aber gleichzeitig alle aus dieser Gemeinschaft aussortiert, die nicht den Kriterien des von ihnen propagierten Rassenwahns entsprachen. Und natürlich auch diejenigen, die sich der ideologischen und ökonomischen Zurichtung zu Werkzeugen des expansionshungrigen deutschen Kapitals widersetzten. Was damals mit diesen aussortierten Teilen der „Volksgemeinschaft“ geschah, ist bekannt.

Ganz sicher ist nicht jeder, der bei der letzten Wahl sein Kreuzchen bei der AfD gemacht hat, marktradikal oder zählt zur äußersten Rechten. Die wirtschaftliche Krise hat zu einer Krise des politischen Systems geführt. Die großen Parteien können keinen Ausweg aus der Misere weisen, führen ihren Wahlkampf hauptsächlich mittels nichtssagender Phrasen. Viele entweder hoffnungslos verarmte oder von Abstiegsängsten geplagte Menschen verzichten daher auf ihr Wahlrecht. Oder sie sind bereit, jede Partei zu wählen, die ihnen möglichst lauthals irgendetwas verspricht – nur nicht die großen Parteien, denen sie die Schuld an der derzeitigen Situation geben. Dies betrifft wohl in hohem Maße (aber nicht ausschließlich) die weitgehend deindustrialisierten Gebiete im Osten Deutschlands, die sich bis heute nicht von dem Sozialschock der frühen 1990er Jahre erholt haben. Die Medienschelte gegen die „undankbaren Ossis“ dürfte den rechten Parteien dort eher noch mehr Anhänger zutreiben. Nur wird eine Machtergreifung der AfD, falls es irgendwann eine solche geben sollte, die soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit der betreffenden Regionen keineswegs verbessern, eher verschlimmern…

Die meisten AfD-Politiker hüten sich gegenwärtig noch davor, offen von Rassenkriterien und Lagerhaft zu reden. Immerhin beteiligen sie sich ganz ungeniert an dem Spiel, Teile der immer weiter verarmenden „bio“deutschen Unterschicht auf ankommende Flüchtlinge zu hetzen. Es macht sich halt immer gut, wenn man Arme und Schwache motiviert, auf noch Schwächeren herum zu trampeln. Den Profiteuren der Armut kann so etwas nur zugutekommen.

Und was ist mit der Kritik der AfD sowie ähnlicher Parteien und Bewegungen an Steuerverschwendung, Lobbyismus und anderen Elementen von krimineller Ökonomie? Nun, ein Unternehmer wird stets ein Gegner von Wirtschaftskriminalität sein – es sei denn, dass er selbst ein Profiteuer derselben ist. Dass man in den Führungsgremien der AfD auffallend viele Abenteurer, Bankrotteure, Konjunkturritter und abgehalfterte Politiker der großen Parteien findet, ist übrigens kein Zufall. Man prangert in solchen Kreisen gern Korruption und Vetternwirtschaft beim politischen Gegner an, greift aber gierig zu, wenn einem selbst etwas geboten wird.

Der Wahlsieg der AfD wurde bezeichnenderweise von diversen politischen Skandalen flankiert. Die sich gern als „Saubermänner“ präsentierenden Rechtsradikalen ließen sich bei ihrem Wahlkampf unter anderem von einer Schweizer PR-Agentur unterstützen und vermieden es dadurch, wie im deutschen Parteiengesetz vorgeschrieben, die Namen von Großspendern offenlegen zu müssen. Und die anhaltend tobenden Flügelkämpfe samt plötzlicher Parteiaustritte von neugewählten Parlamentariern sind nichts anderes als ein Symptom des nun entbrannten Streites um die besten Plätze am frisch erbeuteten Fressnapf.

Wird die AfD wieder ebenso schnell von der politischen Bühne verschwinden  wie diverse andere Rechtsparteien vor ihr? Eher nicht. Im Moment wird sie erstmal wie ein Magnet weitere ruinierte oder kurz vor dem Ruin stehende Kleinproduzenten anziehen, die auf irgendein lukratives Pöstchen hoffen. Vor allem solche Leute werden ihre frisch eroberten Pfründen mit Zähnen und Klauen verteidigen.

Uns stehen wohl harte Zeiten bevor. Gewerkschaften, Sozialverbände, Umweltschutzgruppen und andere linksgerichtete Organisationen sollten sich auf diese vorbereiten und dem weiteren Vormarsch der Rechtsradikalen energischen Widerstand entgegensetzen.

Verwendete Literatur:

Engels, Friedrich: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, MEW Band 1, Berlin (DDR) 1976, Seite 499 ff.

Kurz, Robert: „Die Demokratie frisst ihre Kinder“, in Krisis (Hg.): „Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen“, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1993, Seite 11 ff.

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.