Wo hat Erdogan sein Geld her? Interview mit Aziz Tunc
Das Gespräch mit dem in Deutschland exilierten kurdischen Schriftsteller aus der Türkei Aziz Tunc führte Gitta Düperthal. Übersetzung: Mustafa Korkmaz
Wie verhalten sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) im Bezug auf die Großkonzerne in der Türkei und die Religion? Inwieweit ist das Wirtschaftssystem dort korrupt?
Eine wirklich interessante Frage ist: Wo hat Erdogan sein Geld her? Die politische Ökonomie in der Türkei unter der AKP-Regierung ist geprägt vom Druck auf die säkulare Bourgeoisie und dem gleichzeitigen Heranziehen einer neuen streng religiösen Elite. Erdogan setzt auch die Bourgeoisie unter Druck; das gehört zu seinem Konzept der politischen Ökonomie, so wie er es sich vorstellt. Das Prinzip, nach dem er dabei vorgeht, funktioniert so: Passt einem Konzernboss seine Politik in Richtung Islamisierung und Neo-Osmanisches Reich nicht, schickt ihm Erdogan das Finanzamt mit Großprüfungen auf den Hals. Ein Anlass, Schwierigkeiten zu machen, ist dann schnell gefunden. Eine weitere Variante ist: Es gibt eben keine staatlichen Ausschreibungen mehr, die auf Angebote des Unternehmens passen. Das läuft schon lange so.
Ein Beispiel dafür ist der Großkonzern Koc. Im Jahre 2013 war die AKP-Regierung der Meinung, dessen Konzernchef habe sich für die Gezi-Park-Demonstranten zu stark eingesetzt. Damals hatte Erdogan die Firmengruppe nach den Protesten auf dem Taksim-Platz in Istanbul attackiert, weil das zur Koc Holding gehörende „Divan Hotel“ Demonstranten Zuflucht geboten hatte – aus Sicht Erdogans also „Terroristen“ unterstützte. Die islamisch-konservative Regierung hat daraufhin der 1926 gegründeten Familienholding mehrere Aufträge entzogen; bei deren größter Konzerntochter, der Erdölraffinerie Tüpraş, waren Steuerprüfer einmarschiert. Darüber hatte unter anderem die „Neue Züricher Zeitung“ berichtet.
Bald darauf ist Tüpraş wegen angeblicher Bilanzvergehen zu einer Geldstrafe von 175 Millionen Euro verurteilt worden, was Erdogan-Kritiker als Racheakt interpretierten.
Hatte Konzernboss Mustafa Koc, der im Besitz eines der reichsten Unternehmen in der Türkei war, Erdogan die Stirn geboten? Nicht in letzter Konsequenz: Der am 21. Januar 2016 in Istanbul verstorbene Mustafa Koc verteidigte zwar in einem Interview das Demonstrationsrecht, beharrte jedoch zugleich darauf, das Öffnen des Hotels für Protestierende sei einzig ein humanitärer Akt – also nicht politisch motiviert – gewesen.
Auch wegen solcher Erklärungen würden Oppositionelle dem türkischen Bürgertum vorwerfen, vor dem autoritärem Habitus des AKP-Regimes zu kuschen. So hatte es Deniz Yücel am Todestag von Koc geschrieben – damals, als der „Welt“-Korrespondent noch berichten konnte, da er noch nicht in der Türkei inhaftiert war. Das Zerwürfnis zwischen Erdogan und Koc, damals ein Exponent der säkularen, westlich orientierten Geschäftselite, muss letztlich nicht von langer Dauer gewesen sein. Am Tag seiner Beerdigung jedenfalls veröffentlichten Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu Beileidsbekundungen. So funktioniert das Modell eines Kapitalismus beim Übergang zur Diktatur.
Haben Enteignungen und die Schaffung einer neuen Bourgoisie in der Türkei nicht seit dem Völkermord an den Armeniern 1915 eine unrühmliche Geschichte – weshalb letzterer auch bis heute in der Türkei als hochbrisantes Thema totgeschwiegen wird?
In der Tat, zahlreiche Personen und türkische Unternehmen, darunter die Großindustriellenfamilien Koc und Sabancı, hatten 1915 direkt oder indirekt von der Vertreibung der Armenier und der Konfiszierung ihrer Besitztümer profitiert. Rechtsexperten beschreiben das damalige Gesetz zur Zwangsenteignung als „Legalisierung von Raub“. Ähnlich kriminell funktionieren aber auch aktuelle Machenschaften unter der AKP.
Können Sie ein weiteres Beispiel nennen?
Es gibt viele Exempel, wie einfach es ist, in der Türkei zu enteignen: Die AKP-Regierung hatte im Jahre 2014 der Bank Asya unter anderem das Recht entzogen, für ihre Kunden die Zahlung von Steuern und Sozialabgaben abzuwickeln. Die Bank gehört zum Imperium des in den USA lebenden Geistlichen Fethulla Gülen, einst Freund, nun aber bekanntlich Erzfeind des Premiers Erdogan. Regierungsnahe türkische Medien berichteten, dass die Bank in einer schweren Krise stecke. Erdogan selbst hatte öffentlich gesagt, die Bank sei bereits bankrott. Wie zu erwarten war deren Marktwert daraufhin gesunken. Medienberichten zufolge hatten Staatsbetriebe und Erdogan nahestehende institutionelle Anleger zuvor Milliardensummen von ihren Konten bei Asya abgezogen.
Und wer profitierte davon? Die türkische Finanzaufsicht übernahm 2015 die Kontrolle über die Bank; der Einlagensicherungsfonds des Landes (TMSF) beherrschte dann „das defizitäre Institut“. Das Geldhaus stelle eine Gefahr für die Stabilität des Finanzsystems dar, hatte die Bankenaufsichtsbehörde (BDDK) damals den Schritt begründet. Innerhalb des Kapitalismus gibt es viele Spielarten der gezielten Einflussnahme auf das Finanzwesen.
Im Medienbereich wurden nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 auch Sender und Zeitungen angegriffen. Funktionierte das nach dem gleichen Prinzip?
Ja, es funktioniert stets sehr ähnlich: Die Steuerfahndung kommt, es gibt Durchsuchungen, Verhaftungen, die Regierung startet öffentlichkeitswirksame Kampagnen: Im Fall der Zeitung „Hürriyet“ randalierten obendrein im September 2015 rund 150 Erdogan-Anhänger und aufgehetzte Schläger vor dem Zeitungshaus. Die Dogan-Holding, ein Medienbetrieb, der unter anderem die Zeitung „Hürriyet“ herausgibt, hatte wegen vermeintlicher Steuerschulden rund 400 Millionen Euro Strafe an das Finanzamt zahlen müssen. Mehrfach war in dem Medienhaus zuvor die Steuerfahndung unterwegs.
Die Holding hält ansonsten unter anderem Beteiligungen an Finanz-, Energie- und Tourismusunternehmen. Ihr gehören auch die beiden Trump-Tower in Istanbul; der Unternehmer Aydin Doğan baute sie und zahlt Trump dafür, den Namen nutzen zu können. Der Dogan-Aktienkurs war schließlich um rund zehn Prozent eingebrochen. Dogan besitzt übrigens zudem den Fernsehsender CNN Turk – ja, genau der Sender, bei dem sich Präsident Erdogan mit dem Handy nach dem gescheiterten Putschversuch am 16. Juli 2016 in aller Frühe gemeldet hatte und seine Anhänger aufforderte, sich den Soldaten entgegen zu stellen!
Es gab bei Dogan Razzien, Verhaftungen, der Ankara-Vertreter der Dogan Holding, Barbaros Muratoğlu, wurde festgenommen, weil im Internet ein gemeinsames Foto von ihm und dem im Exil lebenden Prediger Fethulla Gülen aufgetaucht war: Terrorismusverdacht! Ebenso wurden der Chefjustiziar Turgut Yücel und der frühere Vorstandschef Yahya Üzdiyen verhaftet. Ihre Büros wurden durchsucht.
Aber Erdogan ist es nicht gelungen, die Zeitung „Hürriyet“ zu enteignen oder das Unternehmen dicht zu machen?
Nein, das war in dem Fall offenbar auch nicht das Ziel. Aber Erdogans AKP hat das Blatt nun mit dem als Sprachrohr der Regierung fungierenden Kolumnisten Abdulkadir Selvi voll unter Kontrolle. Dogan war kemalistisch und säkulär, jetzt könnte man sagen: Er ist quasi eine Geisel Erdogans.
Aber es geht auch anders – nämlich Zeitungen und Sender tatsächlich zu enteignen?
So ist es. Der staatliche Einlagenfonds TMSF ist sehr aktiv auf dem türkischen Medienmarkt. Seit 2001 wurden zahlreiche Fernsehsender, wie „Show TV“ oder „atv“ sowie die Zeitungen „Sabah“ und „Akşam“ aufgekauft, um danach wieder verkauft zu werden. Die Preise, zu denen die Unternehmen an neue Eigentümer verkauft wurden, standen meist unter Verdacht, zu niedrig angesetzt zu sein. So musste der Sender „Show TV“, vormals Teil der Çukurova-Gruppe, verkauft werden, weil er Kredite nicht mehr bedienen konnte. Die Transaktion lief über den TMSF ab, der das Unternehmen konfisziert hatte.
Wer profitierte? In Medienberichten hieß es, von den als Preis angesetzten 402 Millionen Dollar seien dann nur 262 Millionen vom Käufer, der regierungsnahen Ciner Media Group, an den TMSF überwiesen worden. Mittels wirtschaftlichem Druck wird so die Meinungshoheit der Regierung durchgesetzt.
Lassen sich die türkischen Arbeitgeberverbände von Erdogan auf der Nase herumtanzen?
Es gibt in der Türkei zwei große Arbeitgeberverbände, die in Konkurrenz zueinander stehen: Erstens Tüsiad, Türk Sanayici ve İşadamları Derneği (Vereinigung Türkischer Industrieller und Geschäftsleute): ein global agierender herkömmlicher Reichenclub, säkulär und kemalistisch – zweitens der konservativ-religiöse Unternehmerverband Müsiad, der sich irreführend Müstakil Sanayici ve İşadamları Derneği (Verein Unabhängiger Unternehmer und Industrieller) nennt.
Letzterer wurde von Erdogan lange Zeit gehätschelt und bevorzugt. Bei Müsiad wird kein Blatt vor den Mund genommen und offen ausgesprochen, worum es dort eigentlich geht: Das Kapital in islamischen Händen zu konzentrieren. Die kemalistische Oberschicht befand sich seit dem Aufstieg von Erdogans AKP mitunter in der Defensive; das hat seine Macht gesteigert. Er hat sich seine eigene neue Elite von Reichen herangezogen, aufstrebende Unternehmen aus Anatolien. Diese neue Bourgeoisie, die “anatolischen Tiger” genannt, hat Geld, ist konservativ und islamisch gesonnen. Ansonsten nehmen sich beide Verbände nichts: Beide gelten gegenüber Lohnabhängigen als hart und als gewerkschaftsfeindlich. Einige Unternehmen sind in beiden Verbänden organisiert; auch das ist möglich.
Ist der türkische Staatspräsident so sehr damit beschäftigt, im eigenen Land alles mit einem ungebremsten Raubtierkapitalismus unter seine Kontrolle zu bringen, so dass er letztlich nichts mehr auf seine Außenwirkung gibt?
Erdogan interessiert sich jedenfalls für alles andere als für Europa. Er nimmt nur noch, fast beiläufig, die Beitrittsgelder und die Zahlungen für Flüchtlinge entgegen. Er setzt vor allem auf das türkische Bauwesen, investiert viel staatliche Mittel in diese Branche. Das Motto dabei ist im Resultat stets: Du kannst nicht zugleich in den neureichen Stadtgebieten in der Innenstadt wohnen – und dann aber etwa nicht in die Moschee gehen wollen und keinen Ramadan machen: Beides geht halt eben nicht.
Es gibt vor allem einen feinen Unterschied darin, wie er mit den Kurden und unliebsamen säkularen Türken in der Westtürkei umgeht: In den Metropolen im Westen kommt zuerst das Finanzamt; es gibt Druck, eventuell wird mit einer Rufmordkampagne nachgeholfen – dann muss billig verkauft werden. In der kurdischsprachigen Südosttürkei macht man sich diese Mühe nicht mehr. Die Armee bombt oder die Abrissbirne kommt, anschließend wird neu gebaut: Erdogan-getreue Eliten können sich freuen, dort einziehen zu können! Mitunter werden die Kurden noch zuvor verhaftet oder aus dem Job entlassen, stets unter dem Vorwand, dass sie angeblich Terroristen seien. Der Rest ergibt sich von selbst: So kann man das Vorgehen der Regierung zusammenfassen.
Welche ökonomische Beziehung gibt es zwischen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und Erdogan?
Dass Erdogans Regierung Öl vom IS bekommt, und die Terrormiliz im Gegenzug anderweitig unterstützt, war in der Presse zu lesen. Die Erdogan-Regierung leugnet es auch offiziell gar nicht. Der türkische Staat pflegt mit dem IS Handels- und andere Beziehungen: Er erhält also günstig Öl und verkauft dafür dem IS Kriegsmaterialien und Lebensmittel. Seit fünf bis sechs Jahren kontrolliert der IS Gebiete in Irak und Syrien, die solche Deals ermöglichen. Mit einer Handels-Blockade der umliegenden Länder – inklusive der Türkei – wäre die Terrormiliz dort längst isoliert gewesen; hätte niemals so lange herrschen können.
Da der IS weltweit als Terrororganisation gilt, war ansonsten fast niemand bereit, mit ihm offiziell Geschäfte zu machen; einzig „im Geheimen“ war einiges möglich. Daesh – wie der IS zu dessen Ärger in arabischer Sprache genannt wird, da es im Arabischen ein Wort gibt, das sehr ähnlich klingt, und so viel wie „niederstoßen“, „zertreten“ oder „Zwietracht säen“ bedeutet – hatte diese schwierige Lage durch Handelsbeziehungen mit der Türkei überwunden. Über die illegalen Machenschaften zwischen Daesh und der Erdogan-Regierung gab es immer wieder zahlreiche Medienberichte. Die Staatsorgane haben all dies nicht zurückgewiesen, sondern ganz im Gegenteil versucht, die Öffentlichkeit von deren „Notwendigkeit“ zu überzeugen.
Gab es auch Waffenhandel mit dem IS?
Allerdings, auch dies ging prominent durch die Presse. Es wäre völlig absurd, zu behaupten, davon nichts gewusst zu haben: Dass der türkische Geheimdienst MIT Waffen von der Türkei nach Syrien für islamistische Extremisten schmuggelte, ist spätestens seit dem Vorfall am 19. Januar 2014 bekannt. Damals versuchte die Gendarmerie drei Lastwagen zu stoppen, die angeblich Hilfgüter transportierten. Für alle Beteiligten, die diesen Skandal zu enthüllen halfen, war dies eine sehr folgenreiche Auseinandersetzungen!
Bei der Durchsuchung wurde dort kistenweise Munition gefunden – die Regierung aber intervenierte damals: Es gab die Anordnung, die Fahrzeuge unverzüglich weiterfahren zu lassen. “Die Lastwagen fahren auf Anordnung des Premierministers persönlich”, habe der Gouverneur von Adana Hüseyin Avni Cos angeordnet. Der damalige Premierminister und heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan habe damals öffentlich erklärt: “Sie dürfen keinen Lastwagen des MIT stoppen, Sie haben dazu keine Befugnis! Diese Lastwagen transportierten humanitäre Hilfsgüter.” So hieß es in einem Bericht der Agentur dpa ein Jahr später.
Der zuständige Staatsanwalt Aziz Takci, der den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hatte, war danach entlassen worden. Gegen 13 Soldaten, die die Laster durchsucht hatten, wurde wegen Spionage ermittelt. Der türkische Oppositionsabgeordnete Enis Berberoglu ist wegen eines Berichts der regierungskritischen Zeitung “Cumhuriyet” über die geheimen Waffenlieferungen nach Syrien zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Ebenso deren ehemaliger Chefredakteur Can Dündar. Er bekam deshalb eine Haftstrafe aufgebrummt und musste ins Exil nach Deutschland flüchten. Auch der Büroleiter der Zeitung in Ankara, Erdem Gül, wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
Welche Rolle spielen Waffenhandel und Geldwäsche mit Daesh für die Türkei – wie profitiert Erdogan davon?
Wie erwähnt, profitieren von den Beziehungen beide Seiten. Es gibt drei Gründe warum Erdogan diese Beziehungen mit der IS pflegt. Erstens passt dies durchaus zum politischen Paradigmenwechsel, der unter Erdogan in der Türkei stattfindet: Weg vom bisherigen kemalistischen Staatswesen, hin zu einem neo-osmanischen Imperium. in dem islamische Normen die Richtung bestimmen. Zweitens hält das billige Öl die türkische Ökonomie in Schwung. Drittens garantieren die Herrschaftsgebiete des IS insgesamt gewinnbringende Märkte; so entstehen neue Milliardäre, die zu Erdogans Anhängerschaft gehören.
Wie funktioniert überhaupt die Kriegswirtschaft – welche wirtschaftlichen Ziele hat Erdogan in Syrien?
Erdogan ist auf dem Weg zum Kalifat; er hat vor, Syrien zu kontrollieren und wenn es geht, unter den Einflussbereich der Türkei zu nehmen. Kürzlich hat er sich über den Friedensvertrag von Lausanne in dem Sinn geäußert, dass er ihn nicht mehr anerkennen will. (Der Vertrag von Lausanne wurde am 24. Juli 1923 zwischen der Türkei sowie Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen im Palais de Rumine geschlossen.) Die Grenzen der Türkei seien viel grösser als die heutige Türkei, sagte er. Was wohl eindeutig ist.
Welche Rolle spielen die Binnenflüchtlinge in der Türkei wirtschaftlich – und welche die aus Syrien und anderen Ländern?
Flucht gab es schon immer, auf die eine oder andere Art. Seit den 1950er Jahren erlebt Türkei die Landflucht. Als Ergebnis der zügellosen kapitalistischen Politik wurde Landwirtschaft stillgelegt, unkontrollierte Urbanisierung fand statt. Zur Flucht gezwungene Bauern mussten in Armut, Elend und Verzweiflung in den Städten leben. Deren zurückgelassene Dörfer und ihr Ackerland hatte die Regierung in groß angelegten kapitalistischen Transaktionen nationalen und internationalen Unternehmen zur Verfügung gestellt. Die Türkei ist ein Land, in dem die kapitalistische Ausbeutung sehr brutal herrscht; die Arbeitslosigkeit ist hoch. Es gibt demzufolge zwischen Arbeitgebern und heimischen Arbeiterinnen sowie Arbeitern große soziale Spannungen. Die Erdogan-Regierung hofft nun, die aus Syrien geflohenen Menschen als ihre eigene Basis heranziehen zu können und zugleich als billige Arbeitskräfte missbrauchen zu können.
Ihre These zugespitzt: Erdogan legt gar keinen Wert darauf, Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Deshalb ist es aus Ihrer Sicht erstaunlich: Weshalb lässt sich die Bundesregierung wegen des Deals von ihm erpressen?
Ich weiß, dass meine These durchaus umstritten sein könnte, will sie aber trotzdem darlegen. Der türkische Staat hat keineswegs die Absicht, die Flüchtlinge systematisch in die EU zu schicken. Im Gegenteil, Erdogan will mit ihnen seine eigene Basis und das eigene Standbein stärken. Er will sie dazu missbrauchen, den islamischen Teil der Gesellschaft in der Türkei zu vergrößern. Er beabsichtigt somit, zugleich Regierungskritiker in der Türkei und in Kurdistan, Kurden, Aleviten und andere säkulare Kräfte in der türkischen Gesellschaft an den Rand zu drängen. Erdogan und seine AKP-Regierung gehen davon aus, durch die Aufnahme möglichst vieler Flüchtlinge gestärkt zu werden. Es ist keine neue Politik, in dieser Weise Einwanderer funktionalisieren und zum Ausbau gesellschaftlich konservativer Veränderungen nutzen zu wollen; dies hatte der türkische Staat schon seit mehr als hundert Jahren angewendet.
Hätten Erdogan und die AKP-Regierung die syrischen Flüchtlinge loswerden wollen, hätten sie längst einen Weg dazu gefunden. Berater von Erdogan hatten in zynischer Weise zu Beginn, als viele Menschen aus Syrien hatten fliehen müssen, in ihren Berichten und Aussagen darauf aufmerksam gemacht: Diese könnten bei dem angestrebten „Groß-Türkei-Plan“ zur Stärkung der türkisch-islamischen Gesellschaft genutzt werden. Um dies umzusetzen, wird eine Gruppe namens „Sadat“ als Paramilitärs rekrutiert und ausgebildet, die sozusagen als Erdogans private Armee herangezogen wird.
Wie brutal diese Gruppe agiert, auch darüber haben verschiedene Medien bereits berichtet. Basis der Gruppe ist ein privates Sicherheitsunternehmen in der Türkei, welches Kurse zu „unkonventioneller Kriegsführung“ anbietet. In der Selbstdarstellung des Unternehmens findet sich der Passus: Es wolle „die islamische Welt dabei unterstützen, eine gemeinsame Verteidigung und Verteidigungsindustrie aufzubauen und ihren verdienten Platz als Militärmacht unter den Supermächten einzunehmen“.
Aber wie kommen Sie darauf, dass Erdogan Flüchtlinge missbrauchen will, um Minderheiten in der Türkei zu bekämpfen?
Dies ist in Maras Terolar, der Gegend, aus der ich stamme, an einem neu gebauten Flüchtlingsdorf deutlich zu sehen: 30 000 syrische Flüchtlinge, die feindlich gegenüber Aleviten und Kurden gesinnt sind, wurden in einem Gebiet angesiedelt, wo bislang nur bis zu 3.000 Kurden und Aleviten leben. Ziel dessen war offensichlich, dass letztere ihre Länder verlassen und flüchten sollten.
Könnte dies nicht auch in rassistischer Weise ausgelegt und gegen die Flüchtlinge gerichtet werden?
Genau das ist ja gerade das Problem: Erdogan versucht die Bevölkerung des Landes gegeneinander auszuspielen und aufzuhetzen. Der Grund dafür ist: Er muss alles tun, um unbedingt an der Macht zu bleiben – da er andernfalls fürchten muss, sich vor Gericht wegen seiner Machenschaften verantworten zu müssen.
Gibt es Beispiele dafür, wie Erdogan-Anhänger ganz konkret von den Zerstörungen im Südosten der Türkei in den Kurdengebieten profitiert haben? Welche Geschichten dringen dazu an die Öffentlichkeit?
Während die Zerstörung der kurdischen Städte einerseits die Tyrannei, Demütigung und Vertreibung der kurdischen Bevölkerung bedeutet, wird danach zugleich eine neue ökonomische Klasse gefördert. Diese Folge spiegelt sich im Wiederaufbau der zerstörten Orte wider. Im Korruptionsskandal Ende 2013 wurde publik: Es gibt eine enge Kungelei zwischen Erdogan, der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI und der Bauindustrie. Die Staatanwaltschaft hatte damals Intransparenz beklagt. Immer dasselbe Muster: Der Staat investiert Millionen; Erdogan verteilt dann lukrative Projekte unter seinen Günstlingen in der Wirtschaft. So schaltet sich TOKI auch bei Bauern in ländlichen Gegenden ein: Häuser und Äcker werden ohne Gegenleistung den Besitzern weggenommen. Die Gelände werden kurz darauf Erdogan-nahen Unternehmen bereitgestellt.
Deren Bauten werden zu horrenden Preisen verkauft, staatstreue Unternehmen können so enorme Gewinne erwirtschaften. Diese Unternehmen sind in der Ära Erdogan entstanden, sie sind sozusagen sein Produkt. Mit Tricksereien wird dieses Geschäftsmodell zu legitimieren versucht: Angeblich seien den Geschädigten Vorteile bei einem Verkauf eingeräumt worden, heißt es etwa; wobei sie tatsächlich jeweils immense Schulden in Kauf nehmen müssen.
Von alldem hatte die kritische Presse berichtet; es gibt genügend Informationen. Mich wundert, weshalb in Deutschland so wenig über das korrupte, kriminelle ökonomische System in der Türkei bekannt ist. Vermutlich sind diese Ausmaße einfach etwas, das man sich hierzulande schwerlich vorstellen kann und demzufolge auch nicht für glaubwürdig hält.
Zu unserem Interviewpartner Aziz Tunc
Aziz Tunc ist ein Schriftsteller und Journalist aus der Türkei, der sich mit der Geschichte und Ökonomie des Landes beschäftigt. Er ist 60 Jahre alt und hat zwei Bücher zur Historie des Pogroms in Maras am 23. Dezember 1978 veröffentlicht. Sie handeln von der damaligen Zerstörung ganzer Wohnviertel durch Nationalisten und Mitglieder der faschistischen MHP: Aleviten, Armenier, Kurden und Oppositionelle waren aus ihren Häusern gezerrt, gefoltert, getötet und Frauen vergewaltigt worden. Nach Tuncs Recherchen war der Staat damals direkt involviert. Das 2011 erschienene Buch mit dem Titel „Die Anatomie und die Hintergründe der Massaker von Maras“ hatte der türkische PEN als „Buch des Monats“ prämiert. Sein zweites, 2014 publiziertes Werk widmet sich Biographien der Opfer.
Aziz Tunc war zugleich Widerstandskämpfer gegen die türkische Militärdiktatur 1971. Er war in der Türkei mehrfach im Gefängnis. Er habe nach dem Putsch am 12. März 1971 gegen die Militärdiktatur in der Türkei opponiert, seit 1975 mehrere Male in Haft gesessen und sei dort gefoltert worden, heißt es in seinem Lebenslauf. Nach dem Putsch 1980 sei er bis 1991 in die Illegalität abgetaucht. Ende 2011 habe die Staatsanwaltschaft in seinem Fall 150 Jahre Strafe verlangt: Wegen des Vorwurfs seiner Mitgliedschaft in der „Terrororganisation“ KCK (Koma Civaken Kurdistan), einer Dachorganisation kurdischer Vereine, die sich mit Wissenschaft, Aufklärung, Sprache, Bildung, Recht, Gesundheit oder Ökologie beschäftigen. Nun wird erneut gegen ihn ermittelt.
Bei den Wahlen 2015 war Tunc Spitzenkandidat der oppositionellen linken HDP (Halklarin Demokratik Partisi) in Maras. Dass er überhaupt in Deutschland ist und hier Asyl beantragen konnte, ist Zufall. Zwölf Tage vor dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016 war er in Stuttgart zu einer Konferenz über seinen Forschungsgegenstand „Massaker in Maras“ eingeladen, tourte danach durch die Republik. Der Rückflug wurde ihm unmöglich gemacht: Freunde von ihm waren bereits verhaftet worden. Nun muss er schon seit zehn Monaten im Flüchtlingslager leben, in einer heruntergekommenen ehemaligen US-Kaserne in Hanau-Wolfgang. Vor etwa einem halben Jahr hat er Asyl beantragt, wann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF seinen Antrag anerkennt, ist ungewiss. Andere Intellektuelle im Exil mussten fast ein ganzes Jahr warten, bis sie endlich den Status als Asylberechtigte erhielten.
„Aziz Tunc muss aus dem Lager so schnell wie möglich heraus, weil ein weiterer Aufenthalt dort ihn auf Dauer psychisch und physisch kaputtmachen könnte“, sagt Mustafa Korkmaz vom türkischen Volkshaus in Frankfurt am Main. In der Tat: Aziz Tunc hat dort nicht einmal einen Internetanschluss, um publizistisch und schriftstellerisch tätig sein zu können. Zudem muss er zu zweit mit einem jungen, ihm fremden Mann in einem Raum leben, der in bedrückender Weise einer Gefängniszelle ähnelt. Um das Lager herum gibt es keine Infrastruktur, nur ein Gewerbegebiet. Als Wohngebiet ist diese Gegend garnicht tauglich. Schon 2015 hieß es, der benachbarte Reifenhersteller Goodyear Dunlop befürchte Klagen gegen seine Geruchs-Emissionen – und zwar sobald erste Bewohner ihre Häuser dort bezogen hatten. „Für Flüchtlinge aber soll das gut genug sein?“, äußerte sich Thomas Lutz, Gesellschafter der Hanauer „Welle Jugend- und Familienhilfe“ kopfschüttelnd.
Aziz Tunc ist der Ansicht, dass die deutsche Bevölkerung mehrheitlich bereits gut über die diktatorischen Machenschaften in der Türkei des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan informiert ist. Seinem Eindruck zufolge wissen viele über die Massenentlassungen, Verhaftungen und die Kriegsverbrechen gegen die Kurden im Südosten des Landes Bescheid. Er wartet allerdings noch auf eine Aufklärungskampagne der Intellektuellen zu folgendem Thema: Es bedürfe dringend der Information darüber, dass Erdogans Weg zur Diktatur nicht nur die dortige Opposition in Bedrängnis bringt, sondern letztlich alle demokratischen Institutionen in Europa.
Gerade in Deutschland, wo viele Türken und Kurden leben, schlage die Propaganda Erdogans bereits in vielerlei Hinsicht durch. Aziz schlägt vor, einen Kongress mit Schriftstellern und Journalisten zu diesem Thema zu veranstalten, um die aktuelle politische Einflussnahme von Erdogan und seiner AKP-Regierung in Deutschland zu analysieren und zu diskutieren. Sein Resümee: „Dieser drohenden Gefahr für die Demokratie durch dessen auch hierzulande mitunter sehr aggressiv auftretenden Anhänger muss präventiv begegnet werden“.
Gitta Düperthal lebt und arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt am Main.
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