Reiner Diederich
Fritz Bauer, der als hessischer Generalstaatsanwalt den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main ermöglicht und maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Adolf Eichmann in Israel der Prozess gemacht werden konnte, war lange Zeit in der Öffentlichkeit kaum noch präsent, trotz eines nach ihm benannten Institutes und des Fritz-Bauer-Preises der Humanistischen Union. Das änderte sich, als der Zeitzeugen-Film „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ von Ilona Ziok 2010 herauskam. Ihm und der 2009 erschienenen Biografie von Irmtrud Wojak ist es zu verdanken, dass erneut eine breitere öffentliche Diskussion über die zweifelhafte Rolle der bundesdeutschen Justiz in der Nachkriegszeit zustande kam.
In ihr ragte Fritz Bauer als einer hervor, der das Strafrecht nicht zuvörderst als Instrument der Vergeltung sah, sondern als Instrument der Aufklärung mit dem Ziel einer humaneren und sozialeren Gesellschaft. Das war für ihn der Sinn des Auschwitz-Prozesses. Deshalb setzte er sich auch für Reformen des Strafrechts in den Fällen ein, in denen es nur der Konservierung veralteter Moralvorstellungen diente. Deshalb forderte er eine Präzisierung und Verschärfung des Strafrechts in den Fällen, die lange als „Kavaliersdelikte“ galten – wie Steuerhinterziehung und andere Formen von Wirtschaftskriminalität.
Damit machte er sich ebensowenig Freunde wie mit der Verfolgung von NS-Tätern – umgeben von Kollegen, die in der Nazi-Zeit bereits „im Dienst“ gewesen waren und ihn, den aus der Emigration zurückgekehrten linken Sozialdemokraten jüdischer Herkunft, nur gezwungenermaßen akzeptierten. „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland“, sagte er einmal. Aber er hielt allen Angriffen Stand und verfolgte unbeirrbar seine Ziele. „Er war der größte Botschafter, den die Bundesrepublik hatte… Er wusste, womit man Deutschland helfen kann und er hat ihm geholfen“, erklärte Robert W. Kempner, der Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, anlässlich des Todes von Fritz Bauer im Jahr 1968.
Die Spielfilme, die es mittlerweile über Bauer als Person der Zeitgeschichte gibt, versuchen seine aufrechte Haltung in einer Zeit des Verdrängens und Vergessens zu zeigen, verlieren sich aber leider zum Teil in Spekulationen über sein Privatleben. Als sei es notwendig oder sinnvoll, das, was man darüber nicht wirklich weiß und wofür es keine ausreichenden Belege gibt, mit Projektionen und kolportageartigen Szenen aufzufüllen, um eine so starke Persönlichkeit wie Fritz Bauer scheinbar mediengerecht für heute noch „spannender“ zu machen.
Wir finden es spannender, einmal daran zu erinnern, was Fritz Bauer über die „Weiße- Kragen-Kriminalität“ gesagt und geschrieben hat – auch weil es kaum bekannt und immer noch aktuell ist. Es folgt zunächst ein Ausschnitt aus dem Fernsehbericht von Lutz Lehmann über „Verbrechen in der Wohlstandsgesellschaft“, den der Sender Freies Berlin am 27.2.1966 ausstrahlte.
„Verbrechen im Wohlstand“
„Über das umfangreichste Verbrechen der im Wohlstand befindlichen Gesellschaft werden keine Romane geschrieben, aber auch kaum Anklageschriften verfasst. ‚White Collar Crime‘ nennen es die Amerikaner – ‚Weiße-Kragen-Kriminalität‘. Gemeint ist das Wirtschaftsverbrechen großen Stils der oberen und höchsten sozialen Schichten, der unreelle Vermögenserwerb mit skrupellosen Mitteln. Es handelt sich um Täter, die nie auf den Anklagebänken der Strafkammern erscheinen. Allerdings: Die größten Verbrechen, so wusste schon Aristoteles, wurden nicht begangen, um sich das Notwendigste, sondern um sich das Überflüssige zu beschaffen. So neu und verblüffend kann die Kriminalität der Inhaber des Wohlstandes also gar nicht sein. Dennoch blieb sie den Gerichten und der Öffentlichkeit bisher verborgen. Welche Erklärung gibt es dafür, fragte ich den hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer.
Fritz Bauer (O-Ton): Zunächst einmal ist zu sagen, dass wir uns in Deutschland im allgemeinen nicht bemüht haben, die Probleme von Big Business zu behandeln. Größere Enqueten, Untersuchungen sind nicht vorgenommen worden, ganz im Gegensatz etwa zu den Vereinigten Staaten, wo von vornherein die Kritik viel größer war.
Der Schaden im Einzelfall, der die anonyme Person, die Frau auf der Straße betrifft, kann sehr gering sein. Das ist zum Beispiel der Fall bei irrtümlicher Reklame, das kann auch der Fall sein bei Untergewicht. Es werden wenig Strafanzeigen erstattet, obwohl der Schaden insgesamt, der Umsatz macht es, sich in die Millionen, in einer Millionengröße bewegen kann.
Es kommt leider hinzu, dass die sogenannte Weiße-Kragen-Kriminalität einer Sondergerichtsbarkeit unterliegt. Beispielsweise wird Steuerhinterziehung nicht als Betrug behandelt, sondern als Steuerhinterziehung mit einem Spezialverfahren. Verstöße, die die freie soziale Marktwirtschaft betreffen, Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, zählen nur als Ordnungswidrigkeiten, nicht als strafbare Handlungen. Das ist eine Sonderstellung.
Dazu kommt, dass bei der Weiße- Kragen-Kriminalität der Begriff des Schreibtischtäters verwendet werden muss. Es handelt sich um Riesenbetriebe mit Tausenden von Angestellten, wobei jeder in der Lage ist, die Schuld auf den anderen zu schieben. Das Problem, wie wir es auch von den NS-Tätern kennen. Es ist also manchmal sehr schwierig, den eigentlichen Sündenbock zu finden. Zuweilen stellt sich ein kleiner Mann später als Sündenbock zur Verfügung.
Die Riesenbetriebe erstrecken sich über Deutschland, sie erstrecken sich teilweise über die ganze Welt. Untersuchungen außerhalb Deutschlands sind so gut wie ausgeschlossen. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte haben bestimmte Grenzen, es sind die nationalen Grenzen, und Untersuchungen außerhalb unserer Grenzen sind so gut wie ausgeschlossen.
Das ist, wenn Sie mich nun einmal fragen, tief bedauerlich, denn der Schaden, der durch die Weiße Kragen-Kriminalität hervorgerufen wird, übertrifft um Millionen, um nicht zu sagen Milliarden die Schäden, die durch die gewöhnlichen Diebstähle und Räubereien begangen werden. Die normale Kriminalität ist völlig gering.
Die Öffentlichkeit wird durch die Weiße- Kragen-Kriminalität in höchstem Maße geschädigt. Wenn wir davon ausgehen, dass allein durch Steuerhinterziehungen in Deutschland mehrere Milliarden Mark hinterzogen werden, so bedeutet das, dass die Steuerehrlichen mehrere Milliarden Mark mehr bezahlen müssen.
Es kommt weiterhin hinzu, dass durch die Machenschaften der Weiße Kragen- Kriminellen das ganze Wettbewerbssystem verzerrt wird. Diejenigen, die zum Beispiel Steuerhinterziehungen begehen, gewinnen einen Marktanteil, der auf Kosten der Steuerehrlichen geht und zur Folge hat, dass auch die Anständigen gezwungen werden, sich zu Manipulationen bereit zu finden, die kriminell sind.“
„Auf der Suche nach dem Recht“
In der vom Fritz-Bauer-Institut herausgegebenen Dokumentation: „Fritz Bauer – Gespräche, Interviews und Reden. Aus den Fernseharchiven 1961-1968“ finden sich zu dieser Sendung ergänzende Informationen:
„Das Thema ‚Verbrechen im Wohlstand‘ geriet Mitte der 60er Jahre, nicht zuletzt durch die öffentlichen Stellungnahmen Fritz Bauers, zunehmend in den Fokus der Medien. Der SPIEGEL widmete im März 1966 der Wohlstandskriminalität seine Titelgeschichte und zitierte Bauer: ‚Das Verbrechen aus Begehrlichkeit, analysiert der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, geschieht weniger, um etwas zu haben, als um etwas vorzustellen.‘
In dem zwei Monate zuvor gesendeten Fernsehfilm vertritt Bauer Thesen, die er ein Jahr später im Schlusskapitel seines Buches ‚Auf der Suche nach dem Recht‘ ausführen wird. Für dieses ist die Resonanz in der Presse umfangreich und positiv, was trotz mangelnder Zeugnisse Rückschlüsse auch auf die Reaktionen der Fernsehzuschauer erlauben mag. In den Stuttgarter Nachrichten lautet gar die fett gedruckte Überschrift: ‚Der Mann verdient einen Orden‘, und weiter:
‚Das größte aktuelle Verdienst des Buches liegt aber in der Darstellung der White-collar-Kriminalität, der Kriminalität der besseren Leute, über die man bisher, jedenfalls bei uns, noch nichts ähnlich Deutliches und Konkretes gelesen hat.‘
Auch die ZEIT lobt Bauers Untersuchung, für die ‚jeder dem kriminalistischen Praktiker Bauer dankbar sein‘ wird, nicht zuletzt wegen der Schilderung, dass ‚sich unsere Strafjustiz auch dort oft impotent erweist, wo nach dem Gesetz strafbare Handlungen wirklich vorliegen‘.
Im Fernsehauftritt ging Bauer noch weiter und erlaubte sich gar en passant einen provokanten Vergleich: Durch die internationalen Riesenbetriebe und arbeitsteiligen Prozesse seien die wahren Abläufe der Wirtschaftskriminalität oft nicht nachvollziehbar, es würden Sündenböcke geliefert und der eigentliche Täter – für den ‚der Begriff Schreibtischtäter verwendet werden muss‘ bliebe unbehelligt – ‚eine Problematik, wie wir es auch von den NS-Tätern kennen‘. Eine bemerkenswerte Volte, wie sie auch in anderen Sendungen vorkommt, in denen Bauer strukturelle Vergleiche zwischen Erscheinungen der Gegenwart und der NS-Zeit nicht scheut.“
Die im Folgenden zitierten Passagen zur „Weiße-Kragen-Kriminalität“ sind Fritz Bauers Buch „Auf der Suche nach dem Recht“ (Stuttgart 1967) entnommen.
Steueroasen
„Eine Nachprüfung der Manipulationen scheidet aber so gut wie immer aus, da die Macht der Finanzämter usw. an den Landesgrenzen endet. Viele Strafjuristen kennen diese Dinge… Auch eine breite Öffentlichkeit sollte begreifen, dass sie noch immer affektgeladen auf den nach ihrer Vorstellung typischen Kriminellen starrt, während ihr – ganz zu Unrecht – der moderne Wirtschaftstäter ganz gleichgültig ist.“ (S.246)
Edwin H. Sutherlands „White collar crime“
„Die Kriminologen, so schrieb er (Sutherland) einmal, betonen emphatisch die Bedeutung der Armut für die Kriminalität und legen Gewicht auf die sozialen und persönlichen Pathologien, die gewöhnlich mit Armut verbunden sind. Die Emphase erklärt sich daraus, daß sie ihre Studien auf Kriminelle der sozialökonomisch unteren Klassen beschränkt haben. Ihre Theorien beruhen daher auf einer einseitigen Auswahl von Kriminellen. Ehrenwerte Geschäftsleute, die die Gesetze verletzen, leben aber selten in Armut und zeigen selten soziale oder persönliche Pathologien.“ (S.231)
„Die Strafjuristen wissen genau, daß das bisherige Bild vom Verbrecher, das beispielsweise Lombroso gezeichnet hat, das Bild eines Menschen mit fliehender Stirne, mit Tätowierungen, mit Debilität und sozialem Tiefstand nicht stimmt, wie sehr auch dieses Bild den Vorstellungen der breiten Masse entspricht.“ (S.242).
„Wir wissen, seitdem Sutherland erstmals den Begriff von der Weiße-Kragen-Kriminalität gebildet hat, daß Kriminalität vor keinem Berufsstand und keiner Klasse haltmacht, wie hoch auch immer sie eingeschätzt wird, daß aber das aktuelle Recht hinter den sozialen Erscheinungen dieser Welt zurückbleibt, daß die Justitia hinkt und trotz Binde einseitig ist und damit das ganze Recht fragwürdig macht.“ (S.242)
Steuerhinterziehung
„Denken wir an Steuerhinterziehungen, die nicht nur den sogenannten Staat schädigen, sondern in Wahrheit die Mitbürger, die statt ihrer nun höhere Steuern bezahlen müssen. Sie schädigen zugleich ihre steuerwilligen Konkurrenten, die möglicherweise durch die Steuerhinterziehungen der anderen aus dem Felde geschlagen und ruiniert werden, dadurch ihre Gläubiger in Mitleidenschaft ziehen und möglicherweise auch sie zum Zusammenbruch bringen. Die Kettenreaktion, die in aller Regel die Unschuldigen, ja die Tüchtigen und Anständigen trifft, wird oft übersehen.“ (S.233)
Kriminelles Verhalten als Kavaliersdelikt
„Folgt man Sutherland, so weitet sich der Kreis der Weiße-Kragen-Kriminalität aus. Eine solche Betrachtungsweise stößt freilich naheliegenderweise auf den heftigsten Widerstand der betroffenen Kreise, die nicht ohne Grund die Kriminalisierung ihres Verhaltens als Kavaliersdelikt abzutun pflegen. Sie fühlen sich nicht als Kriminelle; in aller Regel werden sie auch dann in der breiten Öffentlichkeit nicht für kriminell gehalten, wenn sie eindeutig strafbare Handlungen begehen… Zechbetrug, wenn er nur ein paar Mark beträgt, pflegt bei der Polizei angezeigt zu werden und führt oft genug zu Verhaftungen. Der universelle Steuerbetrug durch Vortäuschung von Geschäftsausgaben gilt als clever, obwohl der Schaden für alle Bürger eines Staates um Hunderte von Millionen den der armseligen Zechbetrüger übertrifft.“ (S.255)
„Der Präsident der New Yorker Börse hat einmal völlig zutreffend gesagt, es sei strafrechtlich und sozial riskanter, ein Stück Brot im Wert von 10 Cent zu stehlen, als in betrügerischer Absicht Aktien im Nennwert von Hunderten Millionen Dollar zu verkaufen.“ (S.255)
Klassenstrafrecht
„Vieles von dem, was dem einen oder anderen als asoziales oder antisoziales Verhalten der sogenannten Oberwelt erscheint und auch in den Gesetzen verboten wird, ist in den Gesetzen nicht kriminalisiert, d.h. zu einer strafbaren Handlung gemacht. Nirgends zeigt sich deutlicher als hier, daß unser Strafrecht noch immer die Schalen eines Klassenstrafrechts mit sich schleppt. Brutal formuliert heißt dies, daß die Reichen die Gesetze gegen die Armen machen, sich selbst aber freistellen. Die Mittel- und Oberklassen pflegen nicht zu stehlen, weil sie nicht zu stehlen brauchen, sie brauchen auch nicht mit vorgehaltenem Revolver Banken zu plündern. Sie haben ihre eigenen Safes.“ (S.233)
Schreibtischtäter
„Bei den großen Gesellschaften begegnen wir weiter dem Begriff des Schreibtischtäters, der uns von den Massenverbrechen des nazistischen Unrechtsstaates bekannt ist. Es herrscht eine weitgehende Arbeitsteilung, so daß eine große Zahl von Verdächtigen auftaucht, von denen jeder nur einen Bruchteil getan hat oder getan haben will, ohne die Gesamtmanipulation zu durchschauen. Jeder schiebt die Schuld auf einen anderen; je höher wir in der Hierarchie der Aktiengesellschaft oder gar des Konzerns gelangen, desto weniger behaupten die Manager zu wissen. Wie in den NS-Prozessen pflegt dann die Schuld an den Tätern der unteren Ränge hängenzubleiben, die in Wahrheit nur ausführende Organe gewesen sind und den geringeren Vorteil hatten. Oft mögen sie im Hinblick auf das Prestige der Firma oder mit Rücksicht auf ihr späteres Fortkommen die Schuld auf sich nehmen. Das strafrechtliche Resultat, sofern ein solches überhaupt erzielt wird, besteht dann in der Verurteilung ziemlich unbedeutender Angestellter zu bescheidenen Strafen, während der Gesamtkomplex unberücksichtigt bleibt.“ (S.241)
Quelle: www.forum-bioethik.de/FBcd13.html
Literaturhinweise:
- Irmtrud Wojak: „Fritz Bauer 1903- 1968“, Ergänzte Neuauflage, Buxus Edition 2016, ca. 600 Seiten, 28 Euro, zu beziehen über den Buchhandel beziehungsweise direkt bei der Buxus Stiftung, Murnauer Straße 2, 82438 Eschenlohe, edition@buxus-stiftung.de
- „Menschenrechtsbewegung in Deutschland“. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 28, 2015, Heft 4, 448 S., 19 €, Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart.
- Das Heft enthält einen Sonderschwerpunkt zu Leben und Werk Fritz Bauers, in dem die Kontroversen um deren Darstellung in Literatur und Film aufgegriffen werden.
- Infos zum Film „Fritz Bauer – Tod auf Raten“: www.fritz-bauer-film.de
Zum Autor:
Reiner Diederich war bis 2006 Prof. für Soziologie und Politische Ökonomie an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Er ist Vorsitzender der KunstGesellschaft
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