Geldkritik statt Kapitalismuskritik

Gerd Bedszent

 „Das Rätsel des Geldfetischs ist (…) nur das sichtbar gewordene, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs.“

Karl Marx: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band“

Kaum jemand mag Banken. Die Abneigung gegen Geldwirtschaft ist alt, bereits aus der Antike nachgewiesen. Dass dann im Hochmittelalter aus den Nischen der feudalen Agrargesellschaft hervortretende Handels- und Finanzkapital war den meisten Menschen unheimlich. Nicht ganz zu Unrecht wurden die sozialen Zumutungen der heranbrechenden Neuzeit mit der Ausweitung der zuvor nur rudimentär vorhandenen Geldwirtschaft in Verbindung gebracht. Die damals schrittweise vollzogene Ablösung von Naturalabgaben durch in eine in Geld zu entrichtende Pacht hatte für die Bauerschaft zumeist furchtbare Folgen – die beginnende bürgerliche Entwicklung erfolgte zu Lasten einer zunehmend verarmenden Agrarbevölkerung.

Der Begriff „Kapital“ existierte in dieser Zeit überhaupt noch nicht, das Wort „Austauschäquivalent“ erst recht nicht. Kaum jemand verstand, dass der Zins einfach nur der Preis für die zeitweilige Bereitstellung einer Geldsumme ist. Im Jahre 1139 erließ Papst Innocenz III. auf dem zweiten Laterankonzil ein ausdrückliches Verbot, für das Leihen von Geld Zinsen zu nehmen. Der einflussreiche Theologe Thomas von Aquin begründete dies im 13. Jahrhundert wie folgt: „Zins zu nehmen für geliehenes Geld ist ungerecht (…), denn da wird verkauft, was es nicht gibt.“ [1] Das Verbot der Zinsnahme beendete die Entwicklung hin zum Frühkapitalismus natürlich nicht. Und behinderte auch nicht ernsthaft die für die Umsetzung dieser Entwicklung nützliche Kreditwirtschaft.

Feudale Potentaten, Grundbesitzer oder Kaufleute, die für eine zu tätigende Investition Kapital benötigten, umgingen das von der Papstkirche ausgesprochenen Verbot, indem sie sich ganz einfach an Nicht-Katholiken wandten. Jüdische Geldverleiher, damals aufgrund diskriminierender Gesetze von großen Teilen des „normalen“ Wirtschaftslebens ausgeschlossen, wurden so Finanziers zahlreicher kaufmännischer Unternehmungen, früher Manufakturbetriebe und absolutistischer Herrscherhäuser. An sie wandten sich aber auch Bauern und Handwerker, die infolge einer Naturkatastrophe, eines Krieges oder anderer desaströser Ereignisse in Geldnot geraten waren.

Die jüdische Minderheit gab somit den perfekten Sündenbock für die sozialen Verwerfungen der heranbrechenden Neuzeit ab – Pogrome waren im ausgehenden Mittelalter keine Seltenheit. Das Verbot, für verliehenes Kapital Zinsen zu nehmen, wurde erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts aufgeweicht und später ganz abgeschafft. Die jüdischen Banker bekamen dadurch Konkurrenz – katholische und protestantische Kaufleute und Manufakturbesitzer stürzten sich gierig auf das nun auch für sie freigewordene Marktsegment Finanzwirtschaft. Dem in der Bevölkerung  weit verbreiteten Antisemitismus tat dies keinen Abbruch.

Mit dem ersten Höhepunkt kapitalistischen Wirtschaftens im 19. Jahrhundert samt den damals eskalierenden sozialen Grausamkeiten gab es die merkwürdigsten theoretischen Konstrukte, die den Kapitalismus durch Umgestaltung oder Abschaffung des Finanzsektors zu reformieren suchten. Selbst der bürgerliche Ökonom David Ricardo (1772-1823), der heute zu den Klassikern der Volkswirtschaftslehre zählt, meinte an einer Stelle seines Werkes, die Waren sollten sich „unmittelbar“ – also ohne die vermittelnde Funktion des Austauschäquivalentes Geld – „aufeinander als Produkte der gesellschaftlichen Arbeit beziehen“.[2] Noch deutlicher wurde ein solcher Ansatz bei der verkürzten Kapitalismuskritik des Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Dieser sah im Finanzüberbau das eigentliche Übel der Gesellschaft und wollte die Warenproduktion durch Ausgabe von „zinslosem Arbeitsgeld“ und durch „Tauschbanken“ von der von ihm als schädlich angesehenen Bankenmacht emanzipieren.

Es stimmt natürlich, dass sich die Banken in der modernen kapitalistischen Gesellschaft ihre Vermittlungsmacht über das Geldvermögen teuer bezahlen lassen. Und die Idee, sich dieser Vermittlungsmacht und vor allem den anfallenden Gebühren nach Möglichkeit zu entziehen, liegt nahe. Von Schülern Proudhons gegründete „Volksbanken“ und „Tauschringe“ hatten aber stets die unangenehme Eigenschaft, entweder über kurz oder lang wieder von der Bildfläche zu verschwinden oder aber sich in ganz normale profitorientierte Unternehmen zu verwandeln. Die Gesetze einer warenproduzierenden Gesellschaft lassen sich halt nicht so einfach austricksen.

Und da wären wir schon bei Karl Marx (1818-1883), der in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ in gleich mehreren Kapiteln die doch recht komplizierte Ware-Geld-Beziehung der kapitalistischen Gesellschaft durchleuchtete. Marx unterschied deutlich zwischen Geld als Austauschäquivalent, also einem bloßem Hilfsmittel innerhalb der Zirkulationssphäre, und dem Geld als zu investierendem Kapital. Als treibende Kraft der Warenproduktion ermittelte er den Kapitalfetisch, den dem Grunde nach irrationalen Zwang zur Geldvermehrung nur um der Geldvermehrung willen. Die Reformideen von Proudhon und seinen Anhängern waren für Marx schlicht „Geldpfuschereien“.

Die bahnbrechenden Erkenntnisse von Karl Marx gelten zwar bis heute als weitgehend unangefochten, werden aber von nicht wenigen bürgerlichen Ökonomen souverän ignoriert. Ging Marx doch von einer Endlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise aus, erklärte sie als Produkt der Neuzeit und alle ökonomischen Krisen als Ergebnisse der ihr innewohnenden Widersprüche. Die derzeit den Wissenschaftsbetrieb ideologisch dominierende Lehrmeinung betrachtet hingegen den Kapitalismus als etwas Natürliches, schon immer Dagewesenes. Wirtschaftskrisen gelten nicht als Resultat innerer Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, sondern als Folgen einer angeblich schlecht organisierten Zirkulationssphäre, also der Geldwirtschaft.

Theoretikern der äußersten Rechten sind die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie hingegen völlig unverständlich. Meist betrachten sie deren Resultate als Werk finsterer Machenschaften von hinter den Kulissen agierenden fiesen Verschwörern. Schon in der Phase der Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten mitsamt ihrer damals noch genau abgezirkelten Wirtschaftssphären war deren Akteuren das länderübergreifend agierende Bankkapital suspekt. Im noch aus der frühkapitalistischen Ära überkommenen „volkstümlichen“ Antisemitismus fanden diverse Verschwörungstheoretiker die geeignete Ideologie, ihr Unbehagen zu artikulieren. In der kruden Gedankenwelt rechtsradikaler Ideologen gelten „die Juden“ seitdem als mächtige „Gegenrasse“, von deren im Verborgenen wirkenden Macht die Menschheit befreit werden müsse.

Schaffendes Kapital contra raffendes Kapital?

„Die ‚ordentliche‘ Judenvernichtung der ‚deutschen Revolution‘ erschien (…) als eine Art Müllabfuhr des inkarnierten Bösen am Kapitalismus, eine schwere ‚Blutarbeit‘, die anständig durchzustehen war, um hinterher duschen zu gehen und den gereinigten Kapitalismus endlich genießen zu können.“

Robert Kurz: „Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“

In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war die sogenannte „Freiwirtschaftslehre“ oder auch „natürliche Wirtschaftsordnung“ des deutsch-argentinischen Kaufmanns Silvo Gesell (1862-1930) einer der am häufigsten diskutierten Reformansätze. Gesell kritisierte die angeblich privilegierte Stellung von Grundzins und Geldvermögen im Warenumlaufprozess und entwickelte daraus die Idee, mit technischen Mitteln eine permanente Wertminderung umlaufender Banknoten in den Geldkreislauf einzubauen. So sollte Hortung des Geldes und Schatzbildung verhindert, gleichzeitig die Wirtschaft durch einen beschleunigten Geldkreislauf angekurbelt werden. Mehrere Experimente, im lokalen Maßstab solche  „rostende Banknoten“ einzuführen, scheiterten nach nur kurzer Zeit. Aus derlei  Experimenten stammende Geldscheine sind als Kuriositäten zwar noch heute bei Sammlern beliebt; die Bevölkerungsmehrheit und auch staatliche Institutionen waren damals allerdings von ihnen nicht sonderlich angetan.

Silvio Gesell war kein bekennender Antisemit. Wegen seiner – allerdings nur wenige Tage dauernden – Beteiligung an der Bayrischen Revolutionsregierung des Frühjahrs 1919 wird er verschiedentlich sogar der politischen Linken zugerechnet. Kritisiert wurden und werden seine Reformvorschläge allerdings dafür, dass sie nur auf den Finanzsektor der Volkswirtschaft abheben und demzufolge antisemitisch gedeutet werden können.

Eine ganz andere Geldreform wurde in der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg  umgesetzt: Um sich ihrer angehäuften Schulden zu entledigen und Reparationen an die Siegermächte nicht bezahlen zu müssen, warf die deutsche Reichsregierung die Notenpresse an und überschwemmte den Binnenmarkt mit Unmengen gedruckten Geldes. Die daraus resultierende „Hyperinflation“ nahm schließlich Züge von Irrwitz an: Arbeiter und Angestellte wurden täglich mit Milliardensummen bezahlt, für die man schon wenige Stunden später nichts mehr kaufen konnte. Als die Einführung einer neuen Währung (Rentenmark) die Inflation beendete, war die Bevölkerung massiv verarmt. Zwar konnte man in dieser Zeit all seine Schulden mit wertlosen Papierfetzen begleichen. Zeitgleich sank aber auch der Wert von Bankguthaben und von in Sparstrümpfen gehortetem Bargeld auf null. Für mehr soziale Gleichheit hatte der staatlich organisierte Raub nicht beigetragen – die Oberschicht konnte mehrheitlich ihr Vermögen rechtzeitig in Sachwerten anlegen. Sie ging aus dem „Inflationskollaps“ des Jahres 1923 demzufolge als Sieger hervor.

Die radikale Rechte nutzte in der Folge die Verbitterung breiter Bevölkerungskreise, um die Schuld am Desaster dem als rein jüdisch imaginierten Finanzkapital in die Schuhe zu schieben. Es begann der rasante Aufstieg der Nazipartei. Unter dem Schlagwort „Brechung der Zinsknechtschaft“ implantierten Hitler und seine Gefolgsleute Versatzstücke von Silvio Gesells Lehre in ihre Ideologie und hatten damit Erfolg.

War der Antisemitismus der Nazis das Produkt von Nostalgikern eines frühen, angeblich noch funktionierenden Kapitalismus der Kleinproduzenten? Keineswegs. Die von der Nazipartei umgesetzte Mobilisierung einer „Volksgemeinschaft“ entsprach durchaus den Erfordernissen des Beginns moderner Massenproduktion. Faktisch versteckte sich dahinter die Rekrutierung großer Teile der Bevölkerung für das Fabriksystem samt einer rabiat durchgezogenen Disziplinierung der Arbeitermassen. Durchaus nicht zufällig waren nicht wenige Industriekapitäne antisemitisch eingestellt und machten für sämtliche von ihnen selbst zu verantwortenden sozialen Verwerfungen dieser Zeit die angeblich finsteren Machenschaften des Bankkapitals verantwortlich.

Ein Beispiel: Der US-amerikanische Großindustrielle Henry Ford (1863 – 1947), führender Akteur der Zweiten industriellen Revolution und als „Automobilkönig“ einer deren ersten erfolgreichen Profiteure, finanzierte in den 1920er Jahren eine rechtsradikale und eindeutig antisemitische Zeitung. Ford veröffentlichte als Herausgeber ein (mehrfach ins Deutsche übersetztes) Machwerk „Der internationale Jude“. In diesem stellten verschiedene Autoren, darunter auch Fords eigener Privatsekretär, das „schaffende“ Industriekapital dem angeblich unproduktiv „raffenden“ jüdischen Finanzkapital gegenüber. Das Buch wurde nachweislich von später führenden Politikern des 3. Reiches gelesen. Adolf Hitler hatte sich nach seiner Machtergreifung mehrfach als Bewunderer Henry Fords bezeichnet und dessen Unternehmen diverse Rüstungsaufträge verschafft. Aber so weit sind wir in der Historie noch nicht.

Auf die Nachkriegskrise folgte Mitte der 1920er Jahre in Deutschland ein bis dahin beispielloser Anstieg der Industrieproduktion. Dieser war durch die kurz zuvor entwickelte Technologie der Fließbandfertigung samt des in den Fabriken rabiat durchgesetzten Zeitregimes (Taylorismus) möglich geworden. Nach wenigen Jahren beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwungs kam allerdings ein böses Erwachen. Während der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 mussten zahlreiche Fabriken wegen überquellender Warenlager die Produktion einstellten und die „überflüssig“ gewordenen Arbeiter und Angestellten auf die Straße werfen. Da die Entlassenen und ihre Familien ohne Verdienst nichts konsumieren konnten, blieben die Warenlager auch weiter gefüllt und die Fabriktore auf Dauer geschlossen. Der Kapitalismus hatte sich an einer Fülle nicht absetzbarer Waren selbst erstickt.

Die weltweite Krise konnte nach einigen Jahren auf Grundlage massiver wirtschaftspolitischer Interventionen der betroffenen Staatsapparate überwunden werden. Die damit beginnende Ära wird meist nach dem britischen Mathematiker und Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) benannt. Keynes lieferte die theoretische Begründung für ein auf Staatverschuldung basierendes Modell kapitalistischen Wirtschaftens. Der Staat sollte Kredite aufnehmen und auf dieser Grundlage Aufträge vergeben. Dadurch würde wieder produziert, Arbeiter und Angestellte könnten wieder zu Geld kommen und verstärkt konsumierten. Die Lager nicht absetzbarer Waren würden sich leeren, wodurch die restliche Wirtschaft auch wieder in Gang käme. Verzinsung und Schuldentilgung könne der Staatshaushalt aus dem wegen wieder florierender Wirtschaft gestiegenen Steueraufkommen begleichen.

Keynes, der als überzeugter Liberaler keineswegs ein Antisemit war, sah die Ursachen der Weltwirtschaftskrise aber auch nicht im verrückten Selbstzweck der kapitalistischen Produktionsweise. Die Schuldigen an dem großen Crash des Jahres 1929 waren bei ihm „Börsianer und Spekulanten“, also der  Finanzsektor. Keynes trat dafür ein, den Kapitalismus durch staatliche Eingriffe zu regulieren – seine Abschaffung lag ihm völlig fern. Das keynesianische Modell des Staatinterventionismus wurde in den 1930er Jahren in verschiedenen Ländern auf sehr unterschiedliche Art und Weise umgesetzt.

Manche Regierungen kauften damals auf dem Markt nicht absetzbare Agrarprodukte auf, um sie anschließend zu vernichten und so die überquellenden Warenlager wieder leer zu bekommen. Angesichts hungernder Menschenmassen war dies natürlich Irrsinn und rief weltweite Empörung hervor. Unter Präsident Franklin Delano Roosevelt sorgte der in den USA durchgesetzte sogenannte New Deal durch Stärkung der Kaufkraft der Bevölkerung nicht nur für eine Überwindung der Krise, sondern schuf auch die Grundlagen für den folgenden Aufstieg des Landes zur Weltmacht.

Im Deutschland Adolf Hitlers floss das geborgte Geld hauptsächlich in die militärische Hochrüstung und die Errichtung einer militärisch nutzbaren Infrastruktur (zum Beispiel in den vielgerühmten Bau von Autobahnen). Das deutsche Großkapital hatte sich auf das Experiment einer schuldenfinanzierten Krisenbewältigung offenbar nur in der Hoffnung eingelassen, auf diesem Wege die Ergebnisse des 1. Weltkrieges zu revidieren und sich mit militärischen Mitteln der auswärtigen Konkurrenz zu entledigen. Hitlers Wirtschaftspolitik führte dann zwar sehr schnell wieder zu einer Vollbeschäftigung, mündete letztlich aber in die Katastrophe des 2. Weltkrieges.

In der Realität lief die kreditfinanzierte Wirtschaftspolitik der Naziführung übrigens auf das genaue Gegenteil der von ihr propagierten Ideologie hinaus –  nämlich auf eine Stärkung des Finanz- und Bankensektors. Der Antisemitismus als tragende Säule der Propaganda nahm daher immer radikalere Züge an, fand schließlich seine schauerliche Konsequenz in der bürokratisch durchorganisierten Ermordung fast der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas. Flankiert wurde dieser barbarische Akt durch ein System der Plünderung und organisierten Leichenfledderei. Anfangs wurden jüdische Unternehmer noch unter Druck gesetzt, ihren Besitz billig zu verkaufen – später wahrte man nicht einmal den Anschein von Rechtsstaatlichkeit. Selbst die sterblichen Überreste millionenfach ermordeter Häftlinge wurden schließlich für den angestrebten „Endsieg“ verwertet.

Die Verbrechen in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis müssen hier nicht noch einmal geschildert werden; sie sind hinreichend bekannt. Nur noch folgender ergänzender Hinweis: Der massenmörderische Antisemitismus war nichts spezifisch Deutsches und er war auch kein unerklärlicher „Ausrutscher“ in einer ansonsten „sauberen“ kapitalistischen Erfolgsgeschichte. Antisemiten gab es in der Zwischenkriegszeit in fast allen entwickelten kapitalistischen Ländern. Und in den Uniformen der Waffen-SS kämpfte und mordete während des 2. Weltkrieges der rassistische und antisemitische Abschaum von ganz Europa.

Eine Relativierung der Kriegsschuld bedeutet dies allerdings nicht. Große Teile der deutschen Bevölkerung hatten mit ihrem Wahlverhalten des Jahre 1933 maßgeblich dazu beigetragen, ein monströses Regime zu schaffen und auf den Rest der Welt loszulassen. Und eben diese Leute waren mehrheitlich bis zum Schluss gut funktionierende Rädchen, die eine mörderische Maschinerie am Laufen hielten. Die Geschichte der Judenvernichtung während des 2. Weltkrieges ist und bleibt somit eine deutsche Geschichte. Es soll hier nur belegt werden, dass der Antisemitismus kein Produkt des deutschen Nationalcharakters, sondern ein Bestandteil der Ideologiegeschichte des kapitalistischen Systems als Ganzes ist. In Deutschland und den von deutschen Truppen besetzen Gebieten fand dieser Antisemitismus allerdings in Gestalt des „industrialisierten Massenmordes“ die barbarischste Form seiner Umsetzung.

War mit dem Kriegsende, als nun endlich inmitten einer rauchenden Ruinenlandschaft die Waffen schwiegen und dann nach wenigen Jahren des Mangels die unendlich scheinende Warenvielfalt des Kapitalismus wie Phönix aus der Asche auferstand, auch die verkürzte Geldkritik als imaginierte Entsorgung allen Übels an einer ansonsten vermeintlich perfekt funktionierenden Welt des Kapitalismus für immer erledigt? Aber mitnichten.

 

Kapitalistischer Autokannibalismus samt Blasenökonomie

„Der Staat rettete die Banken. Aber er rettete sie auf die paradoxe Weise,
sich bei diesen zu verschulden.“

Wolfgang Fritz Haug: „Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise“

Die als Keynesianismus bezeichnete Phase der Stabilisierung des kapitalistischen Systems währte bis in die 1970er Jahre. Der Strategie, mittels staatlicher Kreditaufnahmen eine künstliche Nachfrage zu schaffen und die Wirtschaft so in Gang zu halten, stieß damals an ihre Grenzen. Durch die wirtschaftlichen Interventionen des Staates wurde spätestens ab diesem Zeitpunkt mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt, als in Gestalt eines erhöhten Steueraufkommens zurückgeholt werden konnte.

Die Staatverschuldung stieg in den entwickelten kapitalistischen Staaten demzufolge permanent. Und die vergleichsweise unterentwickelten Staaten der Peripherie purzelten reihenweise in die sogenannte Schuldenfalle – mussten, um Kredite bedienen zu können, neue Kredite aufnehmen. Der Finanzsektor verschlang einen Jahr für Jahr größer werdenden Teil der jeweiligen Staatseinkommen. Und da die keynesianisch geprägten Ökonomen aus dem Dilemma keinen Ausweg wussten, eroberte eine an den Ideen der Neoklassik orientierte neue Generation von Wirtschaftswissenschaftlern nach und nach die Lehrstühle an den Universitäten. Gemäß den Theoretikern der Neoklassik oder des später so genannten Neoliberalismus war die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929-33 eben nicht dem Wirken ungebremster Marktkräfte zuzuschreiben, sondern das Resultat schädlicher Eingriffe des Staates in den Finanzsektor.

Die dann in fast allen Ländern schrittweise durchgesetzte neoliberale Wirtschaftsstrategie beinhaltete ein rabiates Herunterfahren staatlicher Regulierung, die Privatisierung von staatseigenen oder in kommunalem Besitz befindlichen Betrieben und Verwaltungseinrichtungen sowie ein brutal durchgezogenes Programm von Sozialkürzungen. Vereinfacht gesagt: Zu diesem Zeitpunkt begann der Kapitalismus als Folge seines unstillbaren Hungers nach Profit die eigene, in seiner Hochphase geschaffene Infrastruktur samt sozialstaatlicher Regulierungsprogramme wieder aufzufressen.

Diese neu hereinbrechende Ära sozialer Grausamkeiten musste teilweise gegen starke Widerstände durchgesetzt werden; in verschiedenen Staaten wie Chile, Russland und der Türkei wurde der wirtschaftspolitische Kurswechsel sogar durch einen Putsch des Militärs erzwungen. So etwas widersprach zwar eklatant den Grundsätzen der wirtschaftsliberalen Klassik, nach der der Staat sich aus der Ökonomie herauszuhalten habe. Aber bekanntlich heiligt der Zweck ja stets die Mittel.

Die neoliberale Wirtschaftsstrategie funktionierte natürlich noch weniger, als dies zuvor der keynesianische Staatsinterventionismus tat. Zwar verarmten große Teile der Bevölkerung und öffentliche Institutionen wurden immer stärker ausgedünnt. Die Schuldenberge sanken aber nicht, sondern erreichten in verschiedenen Staatshaushalten eine geradezu irrwitzige Höhe. Das hatte verschiedene Gründe. Einer davon war, dass selbst bekennend neoliberale Regierungen immer wieder klammheimlich keynesianische Stabilisierungsprogramme auflegen mussten, um der Wirtschaft aus diversen Krisen wieder herauszuhelfen.

Auch stellte sich nach und nach heraus, dass das neoklassische Dogma, nach dem Privatbetriebe stets effizienter arbeiten als Behörden und Staatbetriebe, nicht stimmte. Der Staatshaushalt machte bei der Vergabe von bisher durch öffentliche Institutionen gewährleisteten Aufgaben an Privatunternehmen häufig keinen Gewinn, sondern fuhr langfristig gesehen sogar immense Verluste ein. Dazu sank auch noch das Steueraufkommen, was zum Teil aus sinkenden Beschäftigungszahlen und der damit sinkenden Lohnsteuer resultierte, aber auch daraus, dass es mittlerweile ein Lieblingsspiel der Oberklasse geworden ist, sich auf legale oder auch illegale Weise der Besteuerung zu entziehen. Und schließlich und letztlich erfolgte noch eine ganze Kette von Bankencrashs, in deren Folge der jeweilige Staatsapparat riesige Geldbeträge in Finanzimperien pumpte. Wie war es nun dazu gekommen?

Kapitalismus beruht auf Wachstum. Die Ressourcen des Planeten Erde sind aber endlich. Durch Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung lassen sich zwar häufig neue Technologieschübe erzeugen. Die Vermarktung solch technischer Neuentwicklungen hält aber schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit den Bedürfnissen anlagenhungriger Kapitalgruppen Schritt. Hinzu kommt seit einigen Jahrzehnten das Paradoxon, dass als Folge zahlreicher technischer Innovationen mehr Arbeitsplätze in Betrieben und Verwaltungsinstitutionen vernichtet, als zuvor durch Aufbau von Produktionskapazitäten neu geschaffen wurden. Das kapitalistische System ist in Widerspruch zu sich selbst geraten.

Dem Kapitalfetisch als treibende Kraft des Kapitalismus tat dies natürlich keinen Abbruch. Mangels Alternativen expandierte anlagehungriges Kapital zunehmend in den Finanzsektor und bildete dort immer gigantischer werdende Spekulationsblasen. Es kam also zu einer zunehmenden „Entkoppelung“ des Finanzkapitals von der Realwirtschaft. Durch das Platzen solcher Finanzblasen und die Entwertung riesiger Kapitalmengen kommt das ineinander verschachtelte Finanzsystem immer wieder ins Wanken. Da mit einem Zusammenbruch der Finanzimperien auch ein Zusammenbruch der Realwirtschaft droht, kann nur noch der Staat regulierend eingreifen.

Der Bankencrash von 2008/2009 war keineswegs das erste Finanzdebakel der neueren Zeit. Zumindest in seinem medialen Echo war er aber das bisher  heftigste. Das System der Geldwirtschaft schien unmittelbar vor dem finalem Chaos zu stehen – sogar bekennende Verfechter neoliberaler Deregulierungsprogramme schrien plötzlich lauthals nach einer Intervention des Staates. Selbst völlig überschuldete Regierungen legten daraufhin „Bankenrettungsprogramme“ auf. Das Absurde und Aberwitzige dieser Vorgänge bestand nun darin, dass die jeweiligen Staatshaushalte über gar keine liquiden Mittel mehr verfügten. Um den Banken aus dem selbstverschuldeten Desaster wieder herauszuhelfen, waren die Regierungen gezwungen, sich bei eben diesen Banken weiter zu verschuldeten.

Wirtschaften ohne Staat?

Es mag zwar sein, dass private Sicherheitsdienste tatsächlich ‚effizienter und kostengünstiger‘ sind, wie es im entsprechenden Jargon heißt; aber was bedeutet das konkret? Es kann bedeuten, dass, um der Kriminalität, dem Diebstahl oder ähnlichem Herr zu werden, jene Privatmilizen sich ein Anklage- und Gerichtsverfahren (…) einfach sparen und mutmaßliche (!) Kriminelle an Ort und Stelle in Stücke hacken und anschließend mit Benzin übergießen (…).
Das kostet so gut wie nichts und ist schnell erledigt.

Thomas Meyer: „Die Freiheit zur Knechtschaft.“[3]

Das Ende der schuldenfinanzierten Aufbauphase der Nachkriegszeit hatte nicht nur den ideologischen Durchmarsch des Marktradikalismus zur Folge. Mit dem studentischen Aufbruch aus den verkrusteten Strukturen der Wirtschaftswunderjahre kam es erst einmal zu einer vorübergehenden Renaissance kritischen Denkens. Die Neuentdeckung von Karl Marx durch die sogenannte 1968er Generation erschöpfte sich bei vielen ihrer Akteure jedoch in der Gründung von Kleinstparteien, die sich an Vorstellungen einer ausschließlich staatsgelenkten Wirtschaft orientierten. Kaum eines diese politischen Gebilde hatte dauerhaft Bestand, die meisten Akteure des 1968er Aufbruchs landeten über kurz oder lang entweder in der traditionellen Politiklandschaft oder aber sie beteiligten sich an der Gründung neu entstehender grüner Parteien.

Das Resultat der auf die „rote Welle“ folgenden “grünen Welle“ war allerdings nicht nur eine Erweiterung des Politikbetriebes um eine bisher nicht dagewesene Farbnuance, sondern auch die vorübergehende Etablierung einer sich alternativ gebenden Nischenwirtschaft. Sämtliche im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits absolvierten Experimente, den Kapitalismus irgendwie zu reformieren und zu verbessern, erlebten eine Neuauflage und ein erneutes Scheitern: Tauschringe, alternative Banken, lokale Währungen, subsistent wirtschaftende Agrarkommunen… Besonders letztere hatten für sich in Anspruch genommen, als Inseln nichtkapitalistischen Wirtschaftens zu gelten. Die Geldwirtschaft wäre ja abgeschafft und die autoritär-zentralistischen Strukturen seien durch gemeinschaftliche Entscheidungsfindung ersetzt worden.

Verschwiegen wurde von den Propagandisten solcher Alternativprojekte  stets, dass diese angebliche Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen nur für das Innenverhältnis diese Gemeinschaften galt – nach außen hin kauften und verkauften solche Genossenschaftsbetriebe nach wie vor Produkte auf dem kapitalistischen Markt und unterlagen wie jedes andere Unternehmen einer Besteuerung. Gerade das letztere war und ist solchen Gruppen natürlich ein besonderes heftiger Dorn im Auge – gilt ihnen der bürgerliche Staat doch als besonderes fieser Bösewicht, der ihre Freiheit nach Kräften behinderte und versuchte, sie zurück in die verhasste Maschinerie „normalen Wirtschaftens“ zu zwingen.

Und da wären wir jetzt bei der libertären Ideologie: Mit der merkwürdigen Ideenwelt verschiedener Theoretiker des Anarchismus hat sich auch schon Karl Marx herumärgern müssen. Galt deren Kritik doch primär nicht dem Kapitalfetisch als der eigentlichen Triebkraft kapitalistischen Wirtschaftens. Sondern sie wetterten hauptsächlich gegen die von staatlichen Institutionen ausgehenden repressiven Zwänge, die die Mehrheit der Menschen daran hindere, in Freiheit zu leben. Regierungen und Behörden seien nichts anderes als gewöhnliche Räuberbanden, die die Menschen in Form von Steuern und Abgaben ausplünderten und ihnen in Gestalt von Gesetzen und Verordnungen auch noch völlig unsinnige Verbote auferlegten.

Dass ganz besonders in der frühen Phase des Kapitalismus die regierungsseitig ausgeübte Gewalt sehr heftig war, dass Polizei und Justiz unzählige Menschen hinrichteten, sie in Gefängnissen vermodern ließen oder in die Hölle der damaligen Fabrikarbeit hineinprügelten, dass das Militär nicht selten Streiks und Aufstände brutal zusammenschoss – all das wird an dieser Stelle keineswegs bestritten. Und die immensen Kosten der staatlichen Gewaltapparate musste nicht zuletzt die Armutsbevölkerung, gegen die diese Gewalt sich ja primär richtete, in Gestalt von Besteuerung selbst tragen. Der Dichter Georg Büchner (1813-1837) thematisierte in seiner Flugschrift „Der hessische Landbote“ treffend die ungeheuren finanziellen Belastungen, die eine „Legion unnützer Beamter“ der Landbevölkerung des großherzoglichen Kleinstaates auferlegte: „An 700.000 Menschen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpresst, die Presser berufen sich auf die Regierung, und die Regierung sagt, das sei nötig, die Ordnung im Staat zu erhalten (…) In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden.“[4]

Im Gegensatz zu dem revolutionären Dichter, der in seinen Werken leidenschaftlich für die Armen und Entrechteten Partei nahm und den Staat durchaus als Werkzeug einer immer reicher werdenden Oberschicht begriff, haben und hatten die meisten Verfechter anarchistischer Gesellschaftsmodelle keine Vorstellung von der tatsächlichen Rolle des bürgerlichen Staates. Dieser hat zwar durchaus eine repressive Funktion. Die Menschen sollen per Strafandrohung diszipliniert werden, soziale Zumutungen widerstandslos über sich ergehen zu lassen.

Er hat aber auch eine ordnende Funktion. Der Staat setzt Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Kapitalgruppen agieren können, ohne das Funktionieren des Systems insgesamt zu gefährden. Er organisiert und verwaltet sozialstaatliche Regularien und beugt so ernsthaften sozialen Unruhen vor. Er greift bei unvorhergesehenen Ereignissen (Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen …) ein und bringt die kapitalistische Maschinerie gegebenenfalls wieder zum Laufen Und er vertritt bei unweigerlich entstehenden Konflikten die Interessen der „eigenen“ Kapitalgruppen gegenüber denen anderer Staaten. Mit dem Durchmarsch des Neoliberalismus wird diese ordnende Funktion zunehmend heruntergefahren. Außerdem ist infolge der zunehmenden internationalen Verflechtung von Wirtschaftsunternehmen kaum noch zwischen „eigenen“ und „fremden“ Kapitalgruppen unterscheidbar. Wird der Staat nun insgesamt überflüssig? In der Vorstellungswelt marktradikaler Vordenker: gewiss.

Hatten die frühen Verfechter des Anarchismus einen zwar verqueren, aber immerhin noch emanzipatorischen Anspruch von Gesellschaftskritik, so kann bei gegenwärtigen Libertären davon kaum noch die Rede sein. Durch Verschmelzung von Ansätzen der klassisch-anarchistischen Theorie und des Marktradikalismus kam es zur Herausbildung einer neuen Strömung des Anarchokapitalismus. Dessen Ansatz besteht nun darin, dass staatliche Institutionen und Regularien generell abzuschaffen sind, weil sie der freien Entfaltung eines sich selbst regulierenden Kapitalismus im Wege stünden. Nach den Vorstellungen der Anarchokapitalisten sollen Konflikte zwischen Unternehmensgruppen künftig generell vor privaten Schiedsgerichten ausgehandelt, die Polizei durch Detekteien, angestellte Werkschutzeinheiten und durch private Kopfgeldjäger ersetzt werden. Das Betreiben von Gefängnisse sei künftig ausschließlich Angelegenheit von Privatunternehmen. Und an die Stelle von nationalstaatlichem Militär könnten bezahlte Söldnerverbände treten.

Natürlich funktioniert Kapitalismus nicht ohne eine ordnende Hand. Die allerhöchsten Profitraten lassen sich bekanntlich durch nackten Raub oder räuberische Erpressung erzielen. Solche Gewaltakte bauen aber nichts auf, sondern zerstören. Genau deshalb bedurfte es in der Frühphase des Kapitalismus ja eines Aufbaus nationalstaatlicher Strukturen, die den Hunger nach Profit in geordnete Bahnen lenkten. Bei der gegenwärtigen Tendenz der Übernahme von Aufgaben der Behörden und öffentlichen Institutionen durch Privatunternehmen handelt es sich um die Installation von Surrogaten staatlicher Macht. Solche Surrogate werden von Großunternehmen gezielt aufgebaut, um in dem beginnenden poststaatlichen Chaos im eigenen Marktsektor die Ordnung aufrechtzuerhalten und damit auch das Generieren von Profit weiter zu ermöglichen.

In verschiedenen Teilen dieser Welt ist das poststaatliche Chaos bereits Realität. Von Theoretikern des Anarchokapitalismus wird wohlweislich verschwiegen, dass an die Stelle der von ihnen als räuberisch betrachteten Beamtenapparate in solchen Regionen keineswegs eine von allen hindernden Zwängen befreite Marktidylle getreten ist. Wo die Gesetze kapitalistischer Produktion immer noch greifen, eine staatliche Regulierung aber nicht mehr funktioniert, herrscht das Faustrecht. Das Ergebnis ist dann eine kaum verbrämte Banditenherrschaft.

Ja, und was hat das alles nun mit Geldwirtschaft zu tun? Währungen waren seit Entstehung des Kapitalismus stets an nationalstaatliche Institutionen gekoppelt. Es entspricht daher der verqueren Vorstellungswelt von Anarchokapitalisten, auch das Schaffen von Geld in private Hände zu geben. Die seit Jahren im Netz kursierenden Kryptowährungen und speziell der Bitcoin gelten nicht zu Unrecht als eine solche privatwirtschaftliche Entnationalisierung des Geldes.

Freies Geld als Weg in eine freie Welt?

  „Ironischerweise ist in den ideologischen Begründungen für digitale Währungen gern vom Verlust an Vertrauen in die Finanzmärkte und Zentralbanken die Rede, denen deshalb eine ’seriöse‘ Währung gegenübergestellt werden solle, die sich nicht manipulieren lässt. Doch hinter dem Rücken der Akteure gerät das Instrument dann unversehens zu einem weiteren Spekulationsobjekt. Immerhin werden einige von ihnen dabei reich.

Claus Peter Ortlieb: „Bitte ein Bitcoin“

Kryptowährungen erfreuen sich seit Jahren einer zunehmenden Beliebtheit bei Netzgeschäften. Sie sind weder vom Staat noch von Banken reguliert und gelten demzufolge als „frei“. In den Medien werden zwar gelegentlich kritische Stimmen laut, die unter Berufung auf diverse Finanzexperten nachzuweisen suchen, dass eine staaten- und bankenlose Währung auf Dauer nicht funktionieren kann. Von der Fangemeinde werden die Argumente regelmäßig mit dem Argument von Tisch gewischt, dass die Realität ja zeige, dass es eben doch funktioniere.

Als Geburtsstunde der Kryptowährung gilt der 3. Januar 2009. Ein unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto agierender Netzaktivist, dessen tatsächliche Identität bis heute geheim gehalten wird [5], startete ein selbstentwickeltes Programm und schrieb sich selbst dafür 50 Bitcoin auf seinem Konto gut. Der Marktwert eines Bitcoin betrug damals Null. Denn ein Marktwert realisiert sich bekanntlich durch Austausch und für einen Austausch bedarf es mehrerer Akteure. Besagter Nakamoto bemühte sich dann jahrelang, den Bitcoin als Tauschäquivalent bekannt zu machen,  und hatte schließlich Erfolg. Es ist eben eine verlockende Vorstellung, den Rechner in einer ungenutzten Phase mehrere Stunden lang sinnlose Gleichungen lösen zu lassen und dafür Geld gutgeschrieben zu bekommen. Sobald sich genügend Netzaktivisten gefunden hatten, die das Experiment mitmachten, konnten diese dann mit dem quasi aus dem Nichts geschaffenen Geld Waren oder Dienstleistungen bezahlen oder aber es über virtuelle Tauschbörsen in „richtiges Geld“ verwandeln. Nakamoto fand schnell Nachahmer und es kursiert im Netz derzeit eine kaum überschaubare Anzahl von Projekten für Kryptowährungen. Bis heute der Bitcoin von diesen die einzige geblieben, die den Schritt hinaus aus einer Nischenexistenz schaffte.

Als Begründer der Idee einer nicht durch zentrale Notenbanken gestützten Privatwährung gilt in unserer Gegenwart der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek (1899-1992).[6] Für Hayek, bedeutender Vertreter der liberalen Neoklassik, hatten Wirtschaftskrisen ihre Ursachen nicht im produktiven Sektor einer Volkswirtschaft, sondern würden aus Abweichungen des jeweiligen Geldzinssatzes von einem von ihm behaupteten „natürlichen Zinssatz“ resultieren. Diese Abweichungen wiederum erklärte Hayek aus einer angeblich falschen Politik von Zentralbanken als Garanten nationaler Währungen. Die von ihm empfohlene Rezeptur bestand nun darin, die Produktion von Geld in die Hände privater Banken zu legen.

In der frühen Phase des Internetbooms im Jahre 1999 griff der führende neoliberale Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman (1912-2006) Hayeks Freigeldidee wieder auf und prognostizierte die Einführung eines internetbasierenden Bargeldes. Kritiker von Hayeks und Friedmans währungspolitischen Vorstellungen weisen seitdem darauf hin, dass es im 19. Jahrhundert bereits eine Phase des sogenannten „Free Banking“ gab. Damals kursierte in verschiedenen Staaten eine kaum überschaubare Menge unterschiedlicher Währungen mit permanent schwankenden Wechselkursen, herausgegeben von privaten Banken. Auf den Zusammenbruch einer Bank folgte natürlich die sofortige Entwertung der von ihr herausgegebenen Banknoten. Und für Kriminelle war es im währungspolitischen Chaos dieser Zeit ein Kinderspiel, Falschgeld in Umlauf zu bringen. Das Experiment des „Free Banking“ wurde aus guten Gründen sogar in den eher wirtschaftsliberal eingestellten USA nach einigen Jahrzehnten zugunsten der Einführung einer Zentralbank abgebrochen. Letztere hat bis heute als einzige das Recht zur Ausgabe von regierungsseitig abgesicherten Banknoten.

Kryptowährungen lassen sich natürlich nur sehr bedingt mit dieser Phase des „Free Banking“ vergleichen. Eine Entwertung infolge von Konkurs der tragenden Bank kann es nicht geben, da Kryptowährungen nicht von einer Bank herausgegeben, sondern privat „geschürft“ werden. Und einen Bitcoin zu fälschen, dürfte auch etwas schwierig sein, da dieser nicht gedruckt vorliegt, sondern als Datenbündel im Netz kursiert. Verfechter der Kryptowährungen weisen stolz darauf hin, dass es bisher noch keinen erfolgreichen Hackerangriff auf die Bitcoin-Milliarden im Netz gab. Was allerdings nicht zwangsläufig heißt, dass dies für alle Zeiten so bleibt. Es ist jedoch Fakt und wird auch von Verteidigern gar nicht bestritten, dass der Umtauschkurs der unregulierten Kryptowährungen höchst instabil ist.

In der von der „Bundeszentrale für Politische Bildung“ herausgegebenen Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wurde der Bitcoin allerdings als erstes Geld gerühmt, das „nicht durch Staaten und Banken verwaltet und organisiert wird“. Völlig unkritisch bezeichnet der Beitrag die Kryptowährung als Schritt zur Einführung eines „freien, offenen und dezentralen Geldsystems als Alternative zu einem zentralisierten und undurchsichtigen Finanzsystem, das sich zu diesem Zeitpunkt von seiner hässlichsten Seite zeigte und die Regierungen der Welt zwang, Banken mit dem Geld der Steuerzahler zu retten“.[7] Der FDP-Politiker Frank Schäffler, bekennender Anhänger von Hayeks Idee des „Geldwettbewerbes“ und Gründer einer von diversen Großunternehmen finanzierten neoliberalen Denkfabrik, begrüßte ebenfalls schon vor Jahren die Einführung des Bitcoin als „ersten erstzunehmenden Großangriff auf das staatliche Geldmonopol weltweit.“[8]

Nun sprach sich freilich auch schnell herum, dass eine unregulierte und weitgehend unkontrollierte Währung, mittels derer man anonym Überweisungen tätigen kann, geradezu ideal für illegale Transaktionen ist. Linke Netzaktivisten propagierten Kryptowährungen als geeignetes Mittel, verfolgte Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten in diktatorisch regierten Staaten solidarisch zu unterstützen. Solche Unterstützungen gibt es, allerdings machen diese nur einen winzigen Bruchteil der auf der Basis von Kryptowährungen abgewickelten Überweisungen aus. Im Darknet, einem verschlüsselten Bereich des Internets und beliebten Markt für dunkle Geschäfte, wurde der Bitcoin sehr schnell ein gern benutztes Zahlungsmittel. Vermutlich war dies auch Hauptursache für seinen zunehmenden Bekanntheitsgrad.

Von der Fangemeinde wird übrigens gar nicht bestritten, dass Drogenkartelle, Waffenschieber, Menschenhändler, Erpresser und andere kriminelle Subjekte den Bitcoin für ihre Geschäfte nutzen. Ein regelmäßig vorgebrachtes Gegenargument, dass die meisten illegalen Geschäfte immer noch mittels Bargeld abgewickelt werden, ist allerdings abwegig: Eine rechnergestützte Überweisung und eine  Übergabe eines Koffers mit Scheinen sind halt unterschiedliche Vorgänge. Findet die Überweisung in der Währung Bitcoin statt, ist sie für Außenstehende ebenso wenig kontrollierbar wie die genannte Kofferübergabe. Der Bitcoin ist natürlich nicht die Ursache für kriminelle Machenschaften – aber er erleichtert es wesentlich, solche straflos zu realisieren.

Mit zunehmender Verbreitung stieg der Marktwert des Bitcoin dann rasant an: Kurseinbrüche blieben zeitlich begrenzt. Nachdem mehrere US-Börsen Warentermingeschäfte auf der Basis von Bitcoin zugelassen hatten, wurde daraus ein Hype – allein im Verlaufe des Jahres 2017 stieg der Kurs auf das Fünfundzwanzigfache. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Nachdem die Polizei des Landes Hessen im Jahre 2014 bei einer Razzia gegen Drogenhändler 126 Bitcoins im Wert von 50.000 Euro erbeuten konnte, waren diese Ende 2017 plötzlich 1,9 Millionen Euro wert.[9] Auf den Hype folgte natürlich eine kalte Dusche: Innerhalb von nur einem Monat, vom 18. Dezember 2017 bis 18. Januar 2018, stürzte der Umtauschsatz des Bitcoin auf die Hälfte seines zuletzt gehandelten Maximalwertes ab. Eine Spekulationsblase war geplatzt.

4Ist dies nun das Ende der Kryptowährung? Sicherlich nicht. Aber der Traum einer freien unregulierten Geldschöpfung, in der jeder nach Belieben reich werden kann, dürfte erstmal einen netten Dämpfer bekommen haben.

Der Mathematiker und marxistische Kapitalismuskritiker Claus Peter Ortlieb kommentierte schon vor einigen Jahren den beginnenden Run auf Kryptowährungen mit der Bemerkung, dass die Rechnerleistung bei der Erzeugung von Bitcoins keinerlei reale Werte erzeuge, sondern deren Schaffung lediglich simuliere. Der Bitcoin führe allerdings nur eine Entwicklung bis zur letzten Konsequenz fort, die die nationalstaatlichen Währungen schon vor Jahrzenten eingeschlagen hätten. Spätestens seit dem Ende des Bretton-Wood-Systems und der Golddeckung des Dollar im Jahre 1972 habe das von zentralen Banken herausgegebene Geld kaum noch etwas mit realer Wertschöpfung zu tun. Bei der Vervielfachung der kursierenden Geldmenge während der letzten Jahrzehnte handele es sich letztlich um versteckte kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, die das System irgendwie weiter am Laufen hielten. Kryptowährungen seien also nur „Falschgeld, das sich nicht einmal Mühe gibt, wie ‚echtes‘ Geld auszusehen.“[10]

 

Anmerkungen:

[1] Zitiert nach: Koller, Christine und Seidel, Markus „Geld war gestern. Wie Bitcoin, Regionalgeld und Sharing Economie unser Leben verändern werden“, FinanzBuch Verlag, 2014, Seite 26

[2] Zitiert nach Kurz, Robert „Politische Ökonomie des Antisemitismus“, in „Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft Nr. 16/17“, Horlemann Verlag 1995, Seite 177

[3] Den vollständigen Text des Beitrages findet man auf der Homepage www.exit-online.org.

[4] Georg Büchner „Werke in einem Band“, Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1964, Seite 4.

[5] Tatsächlich ist nicht einmal bekannt, ob es sich um eine natürliche Person oder um ein Unternehmen handelt. Es wäre interessant herauszubekommen, ob Nakamoto das Produkt einer bewusst erzeugten Mythenbildung ist oder ob sich hier ein wenig werbewirksames Firmenkonstrukt aus guten Gründen hinter einem Pseudonym versteckt.

[6] Hayek war Zeit seines Lebens erbitterter Gegner sozialistischer Vorstellungen, die er unterschiedslos als „Gewaltherrschaft“ titulierte. Die Diktaturen Hitlers und Mussolinis bezeichnete er beispielsweise als Fortführung sozialistischer und planwirtschaftlicher Ideen. In den 1970er Jahren lobte der bekennende Liberale Hayek hingegen bei einem Besuch im von einer blutigen Militärclique regierten Chile die vom Diktator Pinochet rigoros umgesetzte Zerschlagung des Sozialstaates.

[7] Brenneis, Friedemann „Phänomen Bitcoin. Geld, Technologie und gesellschaftliches Ereignis“, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) Nr. 46-47/2017, Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung

[8] Aaron König (Hg.) „Geld ohne Staat. Die digitale Währung aus Sicht der Wiener Schule der Volkswirtschaft“, FinanzBuch Verlag, München 2015, Seite 10. Frank Schäffler schrieb zu diesem Buch das Vorwort.

[9] „Im Bitcoin-Casino“ von Simon Poelchau, Neues Deutschland vom 13. Januar 2018

[10] Claus Peter Ortlieb „Bitte ein Bitcoin“. Der Text erschien ursprünglich in der Zeitschrift „Konkret Nr. 3/2014“; eine leicht veränderte Variante findet sich unter dem Titel „Digitale und andere Blüten“ auf der Homepage www.exit-online.org.