Fachtagung: »Cum-Ex«-Geschäfte dauern an. Zu wenige Ermittler. Geringes Interesse an Verfolgung. 
Claus-Jürgen Göpfert in junge Welt vom 12. Juni 2022

In den Hochhäusern des Bankenviertels von Frankfurt am Main wurde das Betrugssystem einst ausgeheckt. Rund 38 Milliarden Euro Schaden, das schätzen die staatlichen Ermittler heute, sind bisher durch »Cum-Ex«- und »Cum-Cum«-Geschäfte für die Steuerzahler entstanden. Banken und Kapitaleigner ließen sich hohe Summen an Kapitalertragssteuer vom Staat rückerstatten, die sie tatsächlich nie bezahlt hatten. Nur wenige Schritte vom Bankenviertel entfernt, im linken Treffpunkt »Club Voltaire«, zog der kapitalismuskritische Verein Business Crime Control (BCC) am Sonnabend eine Zwischenbilanz bei der Aufarbeitung des Milliardenbetrugs. Sie fiel düster aus.

Vor zwölf Jahren, daran erinnerte die BCC-Fachtagung, begann in Köln Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker alleine das erste Ermittlungsverfahren. 2017, so der BCC-Experte Joachim Maiworm, gab es bei den Staatsanwaltschaften dann 8,7 Ermittlerstellen für 800 Beschuldigte. Heute führten 30 Justizfachleute bundesweit die Ermittlungen gegen 1.500 Beschuldigte. »Die Staatsanwaltschaften sind unterbesetzt, da läuft es nicht gut«, beklagte Maiworm. Gerade einmal drei Urteile haben Gerichte bisher deutschlandweit gefällt, erst eine Haftstrafe ist in letzter Instanz bestätigt worden.

Bereits 2017 legte ein Untersuchungsausschuss des Bundestages seinen kritischen Abschlussbericht vor. Doch welche Konsequenzen zog der Gesetzgeber? »Der Staat hat nicht reagiert«, so Maiworm. Das betrügerische »Cum-Ex«-Modell sei 2012 lediglich »technisch gestoppt« worden, danach habe es aber »andere Varianten« gegeben. »Es ging weiter, die Kriminellen waren kaum zu beeindrucken.« Lediglich zwei höchstrichterliche Urteile verbucht BCC als positiv. Im Juli 2021 entschied der Bundesgerichtshof: »Cum-Ex« ist illegal und strafbar. 2022 kam der Bundesfinanzhof zu einer ähnlichen Feststellung. Die Verjährungsfrist für diese Delikte wurde von zehn auf 15 Jahre angehoben.

Maiworms Fazit: »Der Staat hat nicht so ein rechtes Interesse an der Verfolgung von ›Cum-Ex‹-Geschäften.« Der »Standort Deutschland« solle verteidigt werden. »›Cum-Ex‹ ist ein illegales Zusatzgeschäft zur legalen Wirtschaft.«
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Lorenz Jarass kommt zu dem Ergebnis: »Das eigentliche Ziel, ›Cum-Ex‹-Geschäfte zu stoppen, wurde nicht erreicht.« Bereits am 14. April 2021 hatte der langjährige Dozent der Hochschule Rhein-Main im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages sein Modell vorgestellt, wie die betrügerischen Geschäfte künftig unterbunden werden sollten. Das »Grundproblem«, erklärte er im »Club Voltaire«: Noch immer müssen und dürfen Banken Bescheinigungen für die Kapitalertragssteuer ausstellen, auch wenn diese gar nicht gezahlt worden ist. Seine Lösung: Künftig soll nur noch das Bundeszentralamt für Steuern bescheinigen dürfen, dass Kapitalertragssteuer gezahlt wurde. Vorher muss die entsprechende Überweisung beim Bundeszentralamt eingegangen sein.

Diese Überweisung muss, verlangt Jarass, detaillierte Angaben zum Steuerpflichtigen enthalten, wie Name, Adresse, Steuernummer, zuständiges Finanzamt. Bis heute, kritisiert der Wissenschaftler, sei ein Finanzinstitut nicht verpflichtet zu überprüfen, ob die Kapitalertragssteuer gezahlt wurde: »Das ist das Schlupfloch!« Seine zentrale Forderung an die Bundesregierung: »Wir brauchen einfache Gesetze.« Statt dessen habe der Gesetzgeber im Jahre 2019 »eine Vielzahl von höchst komplizierten Meldepflichten« an das Bundeszentralamt für Steuern eingeführt, unter dem Obertitel »Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz«. Seine Lösung dagegen sei »systematisch und verwaltungsarm«, meint Jarass. Man brauche dafür »auch nicht eine Vielzahl neuer Steuerbeamte«.
Bisher hat die Bundesregierung nicht auf den Vorschlag des Wissenschaftlers reagiert. Beim Kampf gegen »Cum-Ex«-Betrug, so Jarass, sei es wie »beim Kampf gegen die Hydra: Schlägt man einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach«.

Aus: junge Welt, 12. Juni 2022

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