Am 18. November 2018 sprach Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ im Rahmen der von Business Crime Control e.V. und der KunstGesellschaft e.V. im Frankfurter Club Voltaire veranstalteten Matineen über Entwicklungen innerhalb der EU. Hengsbach war bis 2006 Leiter des Oswald von Nell-Breuning Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Sein Beitrag hier auf den Seiten von BCC stellt die ausgearbeitete und aktualisierte Fassung der von ihm in der Matinee vorgetragenen Thesen dar.

„Was ist los mit dir, Europa?“ Diese Frage richtete Papst Franziskus an die Repräsentanten der Europäischen Institutionen – des Parlaments, der Kommission und des Rates, die sich im Vatikan versammelt hatten, um den Träger des Aachener Karlspreises des Jahres 2016 zu ehren. Inzwischen leuchtet Aachen im Dauerglanz pompöser Inszenierungen der deutsch-französischen Freundschaft, die auf eine vertiefte europäische Einigung ausstrahlen soll. Es bleibt zu wünschen, dass die Strahlen in das Gestrüpp des europäischen Alltags hineinwirken.

1. Aus dem Gestrüpp des europäischen Alltags

 

(1) Der Brexit

Nach dem informellen Gipfeltreffen der Rest-EU in Salzburg im September 2018, auf dem übereinstimmend bekräftigt wurde, das Austrittsabkommen sei an eine „solide, operative und rechtsverbindliche Lösung für Irland“ gekoppelt, warteten die Mitgliedsländer darauf, wie das Vereinigte Königreich und die britische Regierung auf den ausgehandelten Vertrag reagieren würde. Nachverhandlungen lehnten die EU-Organe und nationale Regierungen ab. Sie hatten jedoch eine gemeinsame politische Erklärung abgegeben, die größtmögliche Klarheit über die künftigen Beziehungen schafft. Das Unterhaus hat nun am 15. Januar 2019 das Abkommen mit 432 zu 202 Stimmen verworfen. Die Premierministerin überstand am folgenden Tag ein Misstrauensvotum, das von der eigenen Partei eingebracht worden war.

Der von Theresa May angekündigte und am 21. Januar vorgelegte Plan B wurde von vielen Abgeordneten jedoch als enttäuschend betrachtet. Dennoch will sie weitere Gespräche führen und mit der EU über die Grenzfrage nachverhandeln, was deren Vertreter aber immer noch strikt ausschließen. Seitdem kursieren in der Bevölkerung und in der politischen Öffentlichkeit unterschiedliche Vorschläge: „No-deal“, „peoples vote“, Neuwahlen, eindeutige Befristung der offenen irisch-nordirischen Grenze, Verschiebung des Austrittstermins, Modelle eines Kanada plus oder eines Norwegen plus, Europäischer Wirtschaftsraum, Zollunion, Freihandelszone, WTO-Regime.

Inzwischen haben Abgeordnete des Unterhauses fraktionsübergreifend mehrere Änderungsanträge eingebracht, von denen sieben durch den Speaker zugelassen wurden. Zwei Anträge konservativer Abgeordneter fanden eine Mehrheit: diese schlossen den ungeregelten Austritt aus, um stattdessen mit der EU nachzuverhandeln und Alternativen zur umstrittenen irisch-nordirischen Grenzregelung zu finden. Der Antrag des Laborchefs Jeremy Corbyn, bei engerer Bindung an die EU Mitglied der Zollunion zu bleiben, wurde abgelehnt.

Das Parlament scheint gegenüber der Premierministerin das Gesetz des Handelns in die Hand nehmen und der Regierung Wege erschließen zu wollen, wie ein “No deal“-Brexit vermieden werden kann. Damit signalisieren die Abgeordneten des Unterhauses, dass auch die Rest-EU, die Nachverhandlungen weiterhin kategorisch ausschließt, einlenken sollte, zumal ein Austritt ohne Vertrag sowohl für Großbritannien als auch für die EU erhebliche, risikoreiche Folgen haben wird. Das Mantra des Kommissionspräsidenten Juncker: „Das Vereinigte Königreich soll sich an den Spielregeln der EU-27 messen lassen. Nicht wir verlassen das UK, sondern das Vereinigte Königreich verlässt die EU“, ist unverantwortlich. Es bleibt zu hoffen, dass einige EU-Staaten jene riskante harte Verweigerungshaltung sprengen und sich an der Suche nach Alternativen beteiligen.

(2) Die Gelben Westen

Auf die spektakulär aufgeladene Erneuerung des Élysée-Vertrages in Aachen ist ein dreifacher Schatten gefallen. Die Präsentation eines Plan B, den Theresa May am Vortag dem britischen Unterhaus zumutete, hat nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die Vertreter der EU enttäuscht. Das angestrengte Verschweigen des terminlichen Zusammenpralls der Londoner Abstimmung mit dem Aachen-Event belegt die Kluft zwischen der erhabenen Sphäre, in der sich die Führungseliten bewegen, und dem Gestrüpp des europäischen Alltags.

Eine zweite Terminkollision hat die Aachener Élysée-Feier mit dem Duett Angela Merkel und Emmanuel Macron eingetrübt: Genau diesen Tag hatten nämlich Abgeordnete des Deutschen Bundestags und der französischen Nationalversammlung vereinbart, um des ursprünglichen Vertrags zu gedenken, den Adenauer und de Gaulle vor 55 Jahren geschlossen hatten. Dass die Exekutive einen terminlichen Vorrang vor dem Parlament beansprucht, passt kaum zu Macrons visionär skizzierter Souveränität eines neu zu gründenden europäischen Parlaments.

Noch befremdlicher aber ist drittens das Ausblenden des brodelnden Aufruhrs der Gelbwesten gegen den französischen Präsidenten während der feierlichen Unterzeichnung eines Zweiten Élysée-Vertrags im befreundeten Nachbarland.

Seit November des vergangenen Jahres hat sich eine neue soziale Basisbewegung gegen den französischen Präsidenten formiert. Ihre Mitglieder und Sympathisanten nutzen die sozialen Netzwerke zur Kontaktaufnahme, treten überraschend auf, bedienen sich intelligenter und fantasievoller Kampfmittel, blockieren die Schnittstellen der öffentlichen Infrastruktur, etwa Autobahnauffahrten, Mautstellen oder Verkehrskreisel. Sie sammeln Teile der Landbevölkerung, Arbeiter, die um den Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung bangen, kleine Leute, Arbeitslose und Jugendliche ohne berufliche Perspektive. Die Gegenmacht, die sie von unten her aufgebaut haben, sprengt den traditionellen Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, wie Parteien, Gewerkschaften und selbst „La république en marche“ sie geführt haben. Ihre ausschließliche Zielscheibe ist der Präsident und dessen von oben her den einfachen Menschen zugemuteten sozialen Einschnitte bei den Renten, der solidarischen Sicherung und der Gesundheitsversorgung.

Mit ihren hartnäckigen Forderungen verunsichern sie die Regierung, lassen den Präsidenten, der sich vom Élysée-Palast aus allein dem „Volk“, der „Nation“ gegenüber sieht, ratlos erscheinen, nachdem die mittleren Ansprechpartner der Regierung weggebrochen sind. Es scheint den Gelbwesten trotz des Polizeieinsatzes mit Hartgummigeschossen schon gelungen zu sein, Macrons monokratische Reformaura einzutrüben und den Rückbau des Sozialstaats zugunsten wirtschaftlicher Eliten, den dieser von deutschen Koalitionsregierungen abgekupfert hat, auszubremsen.

Nachdem der Präsident auf den Protest der Gelbwesten hin lange geschwiegen hat, wandte er sich am 10. Dezember 2018 in einer Fernsehansprache an das Volk, zwischen dem und ihm selbst niemand sonst steht. Er ging einen Schritt auf die Gelbwesten zu und nannte ihre Forderungen legitim. Die höheren Steuern auf Kraftstoffe seien bereits ausgesetzt worden. Ihre berechtigte Wut könne auch als eine Chance gesehen werden. Er selbst sei bereit, für die aktuelle Krise seinen Teil Verantwortung zu übernehmen. Es treffe zu, dass er sich in den vergangenen Jahren zu sehr auf die Reformprogramme konzentriert und auch manche von ihnen durch seine Worte verletzt habe. Er wolle sich für ein Frankreich einsetzen, in dem man würdig und von seiner Arbeit leben könne.

Macron kündigte erhebliche sozialpolitische Zugeständnisse an, etwa eine Erhöhung des Mindestlohns, von Steuern und Sozialabgaben befreite Überstunden, Entlastung der Rentner. Ob in den Steuergeschenken, im Respekt vor den Gelbwesten, im einfühlsamen Hinhören, aber autonomen Entscheiden von oben sowie im nationalen Glauben an gute Lösungen bereits die Chance liegt, die Krise zu lösen? Die Ansprache des Präsidenten endet mit dem Bekenntnis: „Meine einzige Sorge gilt dir, mein einziger Kampf ist für dich“.

Die Forderungen der Gelbwesten sind aber inzwischen höher geschraubt – Steuersenkungen, höhere Kaufkraft, mehr direkte Demokratie. Bis zum Jahreswechsel schien die Dynamik der Gelbwestenbewegung abzuschwellen, gewann im neuen Jahr jedoch wieder an Fahrt. Etwa einen Monat nach der Fernsehansprache, veröffentlichte Emmanuel Macron dann am 15. Januar 2019 einen „Brief an die Franzosen“ und eröffnete eine „große nationale Debatte“.

In dem fünfseitigen Brief formuliert ein besorgter Landesvater 34 Fragen, über die Regional- und Landespolitiker in den nächsten zwei Monaten in Rathäusern, Bahnhöfen und auf Wochenmärkten mit Bürgerinnen und Bürgern diskutieren sollen. Danach will der Präsident einen Rechenschaftsbericht vorlegen. Die große Debatte ist in vier Handlungsfelder gegliedert: Steuern, Organisation des Staates, ökologischer Übergang, Demokratie und Bürgerschaft. Die Fragen sind sehr konkret gefasst: Welche Steuern, welche Staatsausgaben sollen prioritär gekürzt werden, wer soll die Energiewende bezahlen, was soll mit alten Autos und Heizungen geschehen, wie soll die Beteiligung der Bürger an der Demokratie weiterentwickelt werden, brauchen wir mehr Volksentscheide?

Der Brief zeigt, dass dem Präsidenten viele Anregungen und Ideen einfallen; er fordert dazu auf: „Lasst uns über alles reden“. Aber wie werden die Antworten gesammelt und ausgewertet, welche Konsequenzen, wessen Entscheidungen sind zu erwarten? Die Debatte ist keine Stimmabgabe, kein Referendum. Wie begrenzt ist dann deren Verbindlichkeit?

In den Fragen des Präsidenten kommen die Themen der Gelbwesten nicht vor: Vermögensteuer, Kaufkraftminderung, Obdachlose, Plebiszite, die Gesetze und Abstimmungen beeinflussen, Lohnforderungen für soziale Dienste, politische Beteiligung. Die Chance, dass Macron mit der Inszenierung einer nationalen Debatte die Krise übersteht, scheint gering zu sein. Schon 70 Prozent der Franzosen zweifeln an deren Erfolg. Bereits der Auftakt des großen Dialogs war kein gutes Vorzeichen: In einem Dorf der Normandie, welches mittels massiver Polizeipräsenz wie eine Festung abgeriegelt war, sprach der Präsident mit etwa 600 Bürgermeistern über deren Anliegen.

(3) Das marktradikale Erbe

Seit Mitte der 1980er Jahre haben sich drei wirtschaftstheoretische Legenden ausgebreitet: „Der Markt ist die Grundform menschlicher Beziehungen“. „Die Geldsphäre ist der Motor wirtschaftlicher Dynamik; sie steuert die Realwirtschaft“. „Das privatwirtschaftliche Angebot ist der Bereitstellung öffentlicher Güter durch den Staat überlegen“. Solche Aberglaubenssätze sind politisch eingeflossen in die Konstruktion des Europäischen Binnenmarktes und dessen vier Freiheiten: der Waren und Dienstleistungen, der Arbeit und des Kapitals. Den Wettbewerbsregeln dieses Binnenmarktes sind nationale Sozialstandards und die jeweilige Tarifautonomie nachgeordnet.

Auch die Europäische Währungsunion folgt solchen Leitbildern. Sie ist fehlkonstruiert und zwingt zu fortwährenden Reparaturen, da sie nur über zwei monetäre Stellgrößen verfügt: die Stabilisierung des Güterpreisniveaus und die Deckelung der öffentlichen Haushalte. Das nominal gleiche Zinsniveau in allen Staaten der Eurozone erzeugt regionale Ungleichgewichte, solange den Mitgliedsländern eine abweichende nationale Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Lohnpolitik zugestanden wird. Die interrational kritisierten deutschen Exportüberschüsse verursachen in anderen europäischen Ländern Außenhandelsdefizite, einer Gläubigerposition Deutschlands entspricht eine Schuldnerposition anderer Länder.

Diese Währungsunion bleibt ohne realwirtschaftliche Flanke eine politisch riskante, instabile Ruine. Auch wenn die Bundeskanzlerin wiederholt erklärt hat, dass die EU keine Sozialunion sei: eine Währungsunion ohne Sozialtransfers ist nicht belastbar, weshalb die Europäische Zentralbank durch indirekte Transfers die Eurozone vor dem Zerfall bewahrt. Dieser Ernstfall trat 2008 mit der von den Investmentbanken verursachten globalen Finanzkrise ein.

Der Finanzkrise war der ungebremste Anstieg der Vermögenspreise vorausgegangen, bis die Blase schließlich platzte. Daraufhin bedrängten die Banken den Staat, dass er ihnen helfe. Anschließend empörten sie sich über die von ihnen verursachte hohe Staatsverschuldung und forderten deren Abbau. Die unterschiedlich hohe öffentliche Verschuldung löste spekulative Attacken der Finanzakteure gegen periphere Staaten der EU aus, denen das Krisenmanagement der Eurostaaten nicht gewachsen war. Einzig dank einer befreienden Erklärung der EZB ist es im Jahre 2012 gelungen, diese Spekulation zu beenden.

(4) Die Entfremdung West-Ost

Während der Blockkonfrontation hat der „lange Gang nach Westen“ (H. A. Winkler) die Lebensstile und Orientierungen der ursprünglichen EU-Staaten, die dem Einfluss der Vereinigten Staaten, der „pax americana“ ausgesetzt waren, verändert. Mit den meist politisch motivierten EU-Erweiterungen nach Süden am Ende der diktatorischen Regime, später auch nach Norden und nach Osten, ist das Einfühlungsvermögen des Westens der Mentalität und dem geschichtlichen Erbe der neuen Länder, die durch die Herrschaft des Osmanischen Reichs, der Habsburger Doppelmonarchie und der Sowjetmacht geprägt waren, nur zögernd gefolgt.

Aus wachsender Entfremdung wird leicht Rivalität. Angeblich leistungsfähige Nationen im Norden und im Westen sind bereit, wirtschaftlich schwächeren Mitgliedern solidarische Hilfe zu leisten. Aber die gewährten Kredite sind an rigorose Sparauflagen gekoppelt, marktkonforme Einschnitte lassen öffentliche Haushalte ausbluten, soziale Leistungen werden gekürzt, Die Folgen sind ein Anstieg von Altersarmut und die Zunahme der Anzahl arbeitsloser Jugendlicher ohne Perspektive. Deutsche Alleingänge unter Einsatz wirtschaftlicher Macht provozieren Ressentiments und Widerstand sowie unkontrollierte Gegenreaktionen kleinerer Partner.

Innerhalb der EU entstehen Anti-Koalitionen: Unter französischer Führung treffen sich regelmäßig sieben Mittelmeer-Anrainerstaaten („club med“), um Pläne einer anderen, nicht einseitig dominierten EU zu entwerfen. Die Visegrádgruppe wehrt sich gegen die Dublin III-Verordnung und die Regeln zur Verteilung der Geflüchteten. Die Westbalkanstaaten unter der Regie Österreichs haben relativ autonom beschlossen, die Balkanroute abzuriegeln. Eine „drei Meere-Koalition“ der Länder zwischen Ägäis, Schwarzem Meer und Ostsee hält Kontakte mit den USA und Russland aufrecht, die Gruppe der „16+1“-Staaten innerhalb und außerhalb der EU bemühen sich um eine stärkere Zusammenarbeit unter der Regie der Volksrepublik China.

Die Brüsseler Zentralbehörden riskieren, dass sich die Kluft zwischen den west- und osteuropäischen Nationen vertieft. Die Kommission hat 2017 ein Verfahren wegen Vertragsverletzung gegen die Warschauer Regierung eingeleitet wegen eines Gesetzes, das die Unabhängigkeit der Richter des Obersten Gerichts beseitigt; die zweite Stufe des Verfahrens wurde im August 2018 eingeleitet. Das EU-Parlament hat im September 2018 der ungarischen Regierung zahlreiche Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip vorgeworfen und den EU-Ministerrat aufgefordert, über die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn zu beraten. Die Vertreter der deutschen Industrie äußern ein deutliches Unbehagen über derartige Sanktionen, die sie als übereilt verurteilen.

(5) Die deutsch-französische Achse

Mit einer Neuauflage des Élysée-Vertrags sollte in der karolingischen Kaiserstadt Aachen nach zähen Vorbereitungen dokumentiert werden, dass die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich für die Zukunft der Europäischen Union unverzichtbar bleibt – auch wenn die Kanzlerschaft Angela Merkels ihrem Ende entgegen geht und Emmanuel Macron von den revoltierenden Gelbwesten bedrängt wird.

Folglich wurden einige Absichtserzählungen in symbolischer Wolkenhöhe zusammengestellt: Die intensive Zusammenarbeit der beiden Staaten soll die Wirtschafts- und Währungsunion vertiefen, den Binnenmarkt vollenden, die Konvergenz zwischen den Staaten fördern sowie die auf industrieller Basis gestützte Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften stärken. Ein Kernpunkt des Vertrags ist die Verteidigung, die Sicherheit, der militärische Beistand bei einem bewaffneten Angriff auf eines der Hoheitsgebiete, ein gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte sowie Operationen zur Konfliktbewältigung in Afrika.

Außerdem wird dem Bemühen um die Partnersprache in der Öffentlichkeit besonderes Gewicht beigemessen. Für die Stärkung der deutsch-französischen Freundschaft spielen Kultur und Medien eine entscheidende Rolle. Deshalb sollen die Bildungssysteme, insbesondere Exzellenzinstrumente für Forschung, Ausbildung und Berufsbildung enger zusammengeführt werden, so dass ein gemeinsamer Kultur- und Medienraum entsteht. Ein ganz besonderes Augenmerk gilt den grenznahen Euroregionen. Sie sollen erweiterte Zuständigkeiten für gemeinsame Initiativen höherer Mobilität, künstlicher Intelligenz und digitaler Netze erhalten.

Die plakative Auflistung zentraler Schwerpunkte, so etwa eines gemeinsamen Wirtschaftsraums mit deutsch-französischem Rat von Wirtschaftsweisen und einer gemeinsamen Wirtschaftskultur, einer militärischen Beistandspflicht im Krieg, einer Aufwertung der Grenzregionen sowie der Digitalisierung, übertüncht die mentalen, kulturellen und politischen Distanzen, die trotz zugesicherter Freundschaft zwischen den Regierenden, Parlamenten und Bevölkerungen bestehen. Monokratisches Durchregieren trifft auf föderale Vielfalt.

Die gemeinsame Brigade ist bei hohem Symbolgehalt militärisch bedeutungslos. Strenge Auflagen für Rüstungsexporte passen nicht zu einer Rüstungsindustrie, die mit dem Projekt des deutsch-französischen Kampfflugzeugs Arbeitsplätze sichert. Die Überschrift eines Kapitels verheißt Frieden, doch der Inhalt handelt vom Gegenteil: Verteidigung, Sicherheit und Bekämpfung des Terrorismus. Operative Einsätze in Afrika und wirtschaftliche Entwicklungshilfe werden auf beiden Seiten des Rheins unterschiedlich ausgelegt.

Diejenigen, die den Vertrag lesen, bringen angesichts solcher Widersprüche, die unter der Vertragsdecke versteckt bleiben, wenig Verständnis dafür auf, dass aktuelle Herausforderungen nicht einmal angedeutet werden, etwa die sozialen und kulturellen Verwerfungen innerhalb der freundschaftlich verbundenen Länder, eine vertiefte betriebliche Ausbildung, die Geflüchteten, die im Mittelmehr umkommen, oder der Spaltpilz, den die Eurozone letztlich darstellt.

Der Abstand zwischen verbalen Bekenntnissen und vertraglichen Dokumenten einerseits und den alltagsweltlichen Dissonanzen begleitet die deutsch-französischen Beziehungen. Diese verlaufen ebenso wenig stetig und glatt, wie die deutsch-französische Achse Bruchstellen aufweist. Bereits die Vorbereitung des Aachener Festivals jenseits der französischen Grenze war mühsam und verlief nicht glatt. Ort und Zeitplan waren lange strittig. Der Deutsche Bundestag ist anhaltend verärgert, weil ursprünglich an diesem Tag vormittags in Berlin und nachmittags Paris ein deutsch-französisches Parlamentsabkommen verabschiedet werden sollte.

Aber solche Reibungen bestehen seit dem ersten Élisée-Vertrag, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vereinbart hatten. Als der Bundeskanzler auf US-amerikanischen Druck hin und mit Hilfe der „Atlantiker“ im Kabinett, Ludwig Erhard und Außenminister Schröder, eine vertragswidrige Präambel akzeptieren musste, welche die enge Partnerschaft Europas mit den USA sowie die Einigung Europas unter Einbeziehung Großbritanniens betonte, geriet de Gaulle außer sich: „Sie benehmen sich wie Schweine“.

Bis heute nimmt die hochgelobte deutsch-französische Freundschaft in der französischen Politik nicht den höchsten Rang ein. Wellen der Nähe und Distanz wechseln einander ab. Nicolas Sarkozy fühlte sich in Berlin und bei einem Besuch in Frankfurt „terrorisiert“; die Beziehungen zwischen Merkel und Hollande blieben unterkühlt, von Missverständnissen und Fehleinschätzungen geprägt. Die Anreden: „Angela“ und „François“ waren eher selten, obwohl Hollande sich mit einem neuen Élisée-Vertrag anfreundete, von dem die Deutschen nicht viel hielten. Die innovativen Reformvorschläge Emmanuel Macrons „eines demokratischen Europas, einer Konvergenz und Solidarität in der Eurozone“ sowie seine Kritik am deutschen Fetisch der Haushalts- und Handelsüberschüsse wurden von deutschen Ökonomen und der CDU-Fraktion zurückgewiesen.

Die massive Deutschland-Fixierung Macrons beurteilen die übrigen EU-Staaten ebenso reserviert wie die deutsch-französische Option eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten. In der Endphase des Ringens um einen vertraglichen Brexit bezieht Merkel eine konziliante, Macron eine harte Position. Beide sind innenpolitisch angezählt. Ob Macron bei der deutschen Kanzlerin den Schulterschluss und die Bestätigung sucht, die ihm die französische Bevölkerung derzeit versagt?

Der frühere Außenminister der USA, Henry Kissinger soll einmal gefragt haben: „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?“ Volker Kauder wusste 2011 auf einem Parteitag der CDU/CSU in Leipzig die Antwort: „In Europa wird wieder deutsch gesprochen“. Die britischen Medien fragten daraufhin zurück: „Oh, really?“ Mit dem Ende der DDR ist das vereinigte Deutschland in die Mitte Europas gerückt und zur „Macht in der Mitte“ geworden, in der sich ein erhöhter Einfluss mit gesteigerter Verantwortung und Verpflichtung verbindet, den politischen und wirtschaftlichen Raum der EU in der Balance zu halten. Kann Deutschland diese Rolle überhaupt spielen, eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, um vorrangig das Wohl der EU zu gewährleisten?

Deutschland ist ökonomisch stark, aber politisch schwach. Die Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft hat die politischen Prioritäten auf das Ökonomische fixiert und das Land in einen Handelsstaat verwandelt. Die deutsche Regierung hat im Umgang mit der Banken- und staatlichen Verschuldungskrise, mit den hochverschuldeten Mitgliedsländern an der Peripherie sowie mit den vor Gewalt und Elend Geflüchteten versagt, indem sie jeweils das eigene nationale Interesse höher eingestuft hat als das gemeinsame Interesse der EU. Folglich kann erstens Deutschland keine hegemoniale Rolle in der EU spielen, weil die EU sich nicht von Berlin aus lenken lässt. Und zweitens ist die Hegemonie weder eines Landes noch die einer deutsch-französischen Achse mit dem Staatenverbund der EU vereinbar.

(6) Blutige Grenzen

• Die Dublin III-Verordnung hat auf deutschen und französischen Druck hin bestimmt, dass jener Mitgliedsstaat für das Asylverfahren zuständig ist, dessen Hoheitsgebiet Geflüchtete zuerst betreten haben. Eine solche Regel macht Deutschland vom Grundsatz her flüchtlingsfrei und belastet übermäßig und unsolidarisch die EU-Südstaaten. Die 1993 beschlossene Änderung des Grundgesetzes Art 16, Abs. 2: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, also eines verfassungsfesten Rechts auf Asyl, hatte zur Folge, dass die Regierung dieses Recht Geflüchteten aus Mitgliedsländern, sicheren Drittstaaten oder Herkunftsländern verweigern kann.

• Was ist schief gelaufen? Die einsame Entscheidung der Kanzlerin: „Wir schaffen das“ hatte ein vertikales Schisma zwischen willkommensbereiter Zivilgesellschaft und staatlicher Abwehrhaltung zur Folge (mit dem Verdacht des Asyl-Missbrauchs, der Vortäuschung: „Afghanistan ist sicher“, mit abgesenkten Sozialleistungen, Wohnsitzauflagen und Ein-Euro-Jobs). Der Umgang mit Geflüchteten wurde der Ressortkompetenz des Innenministers zugewiesen. Es entstand ein Teufelskreis von Fremdenfeindlichkeit, schärferen Gesetzen und der Reaktion auf Gegengewalt. Die deutsche Regierung folgte der irrigen Erwartung, dass die Mitgliedsländer die vorangegangene Nicht-Solidarität der Deutschen mit solidarischem Handeln beantworten.

• Europas Mauer („Mare Monstrum“) – allein 2016 sind 5.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Eine Konferenz der Westbalkanstaaten bereitete den Migrationsgipfel in Wien unter der Regie Österreichs vor. Dieser beschloss, die Grenzen entlang der Balkanroute zu schließen. Der Beschluss wurde auf alle Außengrenzen der EU ausgeweitet, so dass die Balkan-, Ägäis-, zentrale Mittelmeer-, Marokko-, und Schwarzmeer-Routen für immer geschlossen werden sollten. Privat-öffentliche Agenturen (Frontex) sollten für die Grenzsicherung aufgestockt werden. Zivile Initiativen zur Seenotrettung wurden geächtet und ausgeschaltet. Auf den EU-Flüchtlingsgipfeln in Valletta, Paris und Abidjan wurden „Migrationspartnerschaften“ mit afrikanischen Staaten vorbereitet. Die EU-Grenze wurde in die afrikanische Wüste vorverlagert. EU-Regierungschefs unternahmen imperial-ökonomische „Partnerschaftsreisen“ in Herkunftsländer (Ägypten, Niger, Mali, Burkina Faso, Marokko, Tunesien, Algerien). Sie dienten dem Zweck, gegen Euro-Finanzhilfen die Zusagen der vermeintlichen Partner zu erhalten, potentielle Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa an der eigenen Landesgrenze zurückzuhalten.

• Diese Aufgabe erledigen als Nebenbeschäftigung deutsch-französische Einheiten der „Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali“. EU-Repräsentanten versprachen verstärkte Bildungsinvestitionen sowie Hilfen zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums, und zur Errichtung von Abfanglagern (nach dem Muster des Türkei-Deals). Es wurden auch Pläne diskutiert, aus „humanitären Gründen“ in die libysche Lagersituation einzugreifen. Die EU unterstützt afrikanische Staaten dabei, mit biometrischen Verfahren die eigenen Grenzen zu sichern. Auf internationalen Messen finden interessierte Staaten dazu attraktive Angebote, die von der EU subventioniert werden. Gleichzeitig beabsichtigt die Organisation Afrikanischer Einheit, innerhalb der nächsten fünf Jahre den Visazwang beim Grenzübergang afrikanischer Staaten aufzuheben. Die Fluchtbewegungen mit abschwellender Dynamik in Richtung der EU folgen indessen jeweils wechselnden Routen.

• Die zuständigen EU-Organe prüfen derzeit Optionen einer zentralen EU-Flüchtlingspolitik anstelle nationaler Verfahren und bilateraler Rückführungs-Vereinbarungen. Gemeinsame Regeln sollen die Dublin III-Verordnung reaktivieren. Die Außengrenzen sollen durch eine dreifache Aufstockung der europäischen Frontex-Agentur gesichert werden. Eine gemeinsame Abschiebung soll durch eine europäische Polizeiorganisation erleichtert werden. Der Europäische Gerichtshof könnte bei der Prüfung von Abschiebungsentscheiden die unmittelbare Zuständigkeit erhalten, während dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine nachrangige Rolle zukommt.

2. Die Neugründung der Europäischen Union

(1) Verstummte Visionäre

• Emmanuel Macron hat 2017 In seiner Rede an der Sorbonne die Perspektive einer geeinten, souveränen und demokratischen Union entworfen. Eine Neugründung von unten her müsse bei den Bürgerinnen und Bürgern als ursprünglichem Souverän ansetzen. Deren souveräne Repräsentanz sei ein Europäisches Parlament, das über grenzüberschreitende Wahllisten zustande kommt. Bestehende gemeinsame Einrichtungen sollen gefestigt, neue errichtet werden – etwa ein gemeinsames Verteidigungsbudget und eine militärische Eingreiftruppe. Für die Eurozone sind ein Finanzminister zu bestellen und ein eigener Haushalt zu schaffen. Die Konvergenz und Solidarität sollte unter den Mitgliedsländern intensiviert, zwischen Deutschland und Frankreich eine volle Marktintegration hergestellt werden. In der Rede zu Verleihung des Karlspreises 2018 setzte er sich für ein souveränes Europa ein, das sich die eigenen Entscheidungen nicht von fremden Mächten vorschreiben lassen dürfe.

• Jean-Claude Juncker hat im Februar 2017 seine Visionen für eine zukünftige EU vorgestellt. Der Binnenmarkt und der Euro sollte für alle EU–Staaten geöffnet werden. Dazu seien Finanztransfers erforderlich, um die Lebensverhältnisse in den Mitgliedsländern anzugleichen. Gleicher Lohn solle für gleiche Arbeit am gleichen Ort gelten. Die Kompetenzen der EU-Organe seien zu bündeln, Mehrheitsentscheidungen zuzulassen. Die Wirtschafts- und Währungsunion müsse eine demokratische Dimension annehmen. Der Europäische Stabilitätsmechanismus sollte in einen EU-Währungsfonds als Kreditgeber der letzten Instanz überführt, der Euro-Fiskalpakt ins primäre EU-Recht aufgenommen werden. Ein EU-Wirtschafts-und Finanzminister wäre dann zugleich Vizepräsident der Kommission und Chef der Eurogruppe. Die Kommission müsse regelmäßig Instrumente erarbeiten, um für die EU und die Eurozone relevante nationale Haushalte zu stabilisieren.

• Das EU-Parlament hat im Februar 2017 drei Entschließungen verabschiedet: Erstens soll es einen einzigen Ministerrat geben, der mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse fasst. Zudem sei ein ständiger Verteidigungsrat einzurichten. Die Mitgliedstaaten könnten ihren Einfluss über die Wahl der Kommissare ausüben. Dem Schutz und der Sicherheit, den die EU gewährleistet, entspräche ihre Erwartung, dass Bürgerinnen und Bürger moralische Pflichten übernehmen. Zweitens wird die Währungsunion ergänzt durch eine gemeinsame EU-Wirtschaftspolitik. Die Eurozone erhält einen eigenen Haushalt. Die Kommission wird verkleinert, deren Präsident direkt gewählt. Eine starke und mächtige EU sowie blühende lokale und nationale Demokratien festigen sich gegenseitig. Drittens ermöglicht der eigene Haushalt der Eurozone eine intensive, nach oben gerichtete Konvergenz der beteiligten Ökonomien bezüglich Besteuerung, Beschäftigung, Produktivität, Investitionen, sozialen Zusammenhalt. Ein gemeinsamer Währungsfonds dient der Kreditaufnahme und Kreditvergabe an Mitgliedstaaten.

(2) EU-Neustart

Auflehnung gegen das „Weiter so“

• Der Schlamassel der Verfahren und Institutionen der EU erzeugt eine Missachtung des Rechts sowie Rechtsverletzungen. Zwei Verfahren werden nach Belieben verwendet – zum einen die „Gemeinschaftsmethode“ als ordentliches Verfahren der Gesetzgebung unter Beteiligung von Kommission, EU-Parlament und rotierendem Ministerrat und zum anderen die „Unionsmethode“, die durch den Rat der Europäischen Union repräsentiert wird, der zwar über keine Rechtsetzungskompetenz verfügt, dessen Beschlüsse aber einstimmig erfolgen. Bei dem Gerangel um die Verteilungsquoten der Geflüchteten wurde deutlich, wie sehr sich die die Verfahren wechselseitig blockieren.

• Vier kollektive Akteure beanspruchen wechselseitig die Letztkompetenz in der EU und bedrohen damit den Zusammenhalt der Union als Ganzes. Es sind erstens der Europäische Rat, zweitens die Eurostaaten, die völkerrechtliche Verträge jenseits des Unionsrechts vereinbaren, drittens die Träger der ordentlichen Gesetzgebung, nämlich Kommission, EU-Parlament und Ministerrat sowie viertens die Europäische Zentralbank als letzter Stabilitätsanker der Währungs- und Sozialunion. Wie in den Nationalstaaten die Richtlinienkompetenz der Regierungschefs häufig von den Fachressorts eingehegt wird, so suchen unzählige Lobbygruppen auf die supranationalen Repräsentanten der EU Einfluss zu nehmen.

• In regelmäßigen Abständen wird die Idee eines Kerneuropas und seiner Peripherie, oder eines Europas zweier Geschwindigkeiten aus dem Hut von Politikern und ökonomischen Experten gezaubert. Aber meist bleibt ungesagt, welche Staaten diesen Kern bilden, wie deren Verflechtung mit den peripheren Partnern aussieht, welche Institutionen, Verfahren und Ziele in der Kern- und welche in der Randzone gelten. Wem sind die zwei Geschwindigkeiten zugeordnet? Sollen etwa die wirtschaftlich schwächeren Länder schneller Anschluss an die wirtschaftlich starken Länder finden? Oder sollen die westeuropäischen Länder ihren Abstand zu den mittelosteuropäischen und südeuropäischen Ländern vergrößern? Eine wachsende Distanz zwischen Staaten der Kernzone und denen, die draußen bleiben, erzeugt Spannungen und Konflikte. Die Balance zwischen dem Kern und der Peripherie kann politisch nicht gesteuert werden. Überschüsse der Handels- und Zahlungsbilanz sprengen die Balance. Aus Differenz wird Rivalität, die in einer Auflösung endet. Dann erübrigt sich ein Vergleich zweier Geschwindigkeiten.

Konstitution einer „Doppeldemokratie“

Die Europäische Union scheint in einem Krisenmodus als Dauerzustand zu existieren. Wieso zerbricht sie nicht daran? Weil sie über eine „schwingende Architektur“ verfügt: Verknotungen werden nicht, wie vom großen Alexander gewaltsam durchgehauen, sondern geduldig und behutsam aufgelöst. Ob dieses Verfahren auf lange Sicht beibehalten werden kann, ist jedoch zweifelhaft. Um die Kompetenzen transparent und präzise zuordnen zu können und um eine Sicherheit des Gemeinschaftsrechts herzustellen, ist die Ausarbeitung einer Konstitution der EU unverzichtbar.

• Die EU ist ein „Staatenverbund“, nicht die Kopie eines Bundesstaates wie Deutschland oder die USA, die jeweils als Zusammenschlüsse von Einzelstaaten zu einem Gesamtstaat entstanden. Sie ist aber auch kein Staatenbund wie etwa die Nato oder die Vereinten Nationen, die ein Verbund von Staaten sind, die weiterhin souverän bleiben. Die EU ist ein einzigartiges Gebilde, eine Mehrebenen-Demokratie, „ein sich ergänzendes, ineinandergreifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten: eine national-europäische Doppeldemokratie“ (Wolfgang Schäuble). Die Nationalstaaten sind Träger der ursprünglichen Souveränität. Präzise definierte Teile und Kompetenzen davon haben sie an ein supranationales Rechtssubjekt, die Europäische Union abgegeben.

• Damit verwirklicht die EU etwas, was Immanuel Kant in seiner Vision vom ewigen Frieden skizziert hat: Eine Weltregierung als einziger Souverän entartet leicht zur Diktatur; eine Föderation souveräner Nationalstaaten zerfasert; dagegen ist eine „freie Republik souveräner Staaten“ eine Gewähr ewigen Friedens. Genau dies ist in dem Staatenverbund der Europäischen Union als „Doppeldemokratie“ realisiert. Bürgerinnen und Bürger wählen als nationale Staatsbürger und als EU-Bürger ein transnationales Parlament. Dieses wählt eine Exekutive. Eine Länderkammer aus Staatsorganen und Akteuren der Zivilgesellschaft sowie ein EU-Gerichtshof, der sich nicht an den Regeln des Binnenmarkts und der Währungsunion, sondern an einer Verfassung und den darin verankerten, politischen, wirtschaftlich-kulturellen und freiheitlichen Grundrechten orientiert, sind weitere Träger einer eigenständigen Gewalt.

• Der Charme des Nationalen, der heutzutage voreilig als Nationalismus verdächtigt wird, liegt fundamental in der primären Souveränität der europäischen Nationalstaaten. Diese sind Garanten des fundamentalen Rechts, Rechte zu haben, einschließlich der angeblich universalen, so genannten Menschenrechte. Vermutlich ist diese Sichtweise des Nationalen in den vergangenen Jahrzehnten dadurch verdrängt worden, dass die zentralen Organe der Union von den Verzerrungen des Binnenmarkts und vom Schuldenmanagement in der Eurozone unverhältnismäßig beansprucht worden sind. In der Folge wurden „fleißige“ Gläubigerländer und „verschwenderische“ Defizitländer gegeneinander ausgespielt. Wie kann die Souveränität der Nationalstaaten gegenüber der EU-Ebene zurückgewonnen werden? Eine faire Balance muss zwischen den Entscheidungen in Parlament, Kommission, Ministerrat und den Souveränitätsansprüchen der Mitgliedsstaaten hergestellt werden, denn diese sind Partner und Herren der EU-Verträge. Die zentralen Organe der EU sollten die besondere geographische Lage, die Geschichte, den abweichenden Arbeits- und Lebensstil sowie die kollektiven Erfahrungen der Mitgliedsländer im Norden, Süden, Westen und Osten der EU respektieren. Ebenso sollten Gravitationsfelder und besondere Verbindungen benachbarter Nationalstaaten gemäß deren Interessenlage zugelassen werden.

• Eine emotionale Bindung an die Nation, an deren Profil und Geschichte gehört nämlich zur Identität der Bürgerinnen und Bürger, lässt Souveränität auf „Augenhöhe“ entstehen. Dies gilt besonders für eine Bevölkerung, die im real existierenden Sozialismus ausschließlich auf eine internationale Solidarität eingeschworen, während die Anhänglichkeit an Heimat, Volkszugehörigkeit und Nation als bürgerlich und faschistoid gebrandmarkt wurde. Die nachholende Rückbesinnung in den mittelosteuropäischen Ländern auf die nationale Identität sollte von den EU-„Wessis“ verständnisvoll und einfühlsam begleitet werden. Schließlich gilt auch für die Doppeldemokratie der Grundsatz der Subsidiarität, der die Union dazu verpflichtet, den kleineren Einheiten hilfreichen Beistand zu leisten, ihr aber untersagt, Aufgaben an sich zu reißen, die auf regionaler oder lokaler Ebene nicht ausreichend verwirklicht werden können.

• Die Regionen innerhalb des Nationalstaats haben eine eigene Anziehungskraft, die von unten, vom Boden her organisch gewachsen ist. Sie hat sich während eines langen geschichtlichen Zeitraums kulturell, sprachlich und wirtschaftlich geformt. Sie prägt die Mentalität von Menschen, erzeugt ein tief verwurzeltes Heimatgefühl, stiftet eine gemeinsame Identität. Deren Ausdrucksformen sind enge familiäre Bindungen, freundschaftliche Beziehungen, religiöse Bekenntnisse, jahreszeitliche Feste, Trachten, Fahnen, Wappen, unverwechselbare Architekturstile, Naturnähe, landschaftlicher Gestaltung, Volksmusik und Tänze. Aus einem solchen Ensemble sind Nachbarschaftshilfen, dezentrale Verwaltungsformen, Gebietskörperschaften, Kantone oder sonstige föderale Strukturen entstanden. Renommierte Regionen in Europa sind namentlich bekannt und touristische Ziele, etwa die Bretagne, das Baskenland, die Provence, Aquitanien, Katalonien, Galizien, Schottland, Wales, Südtirol, die Lombardei, Sizilien, Wallonien, Flandern.

• Jene dramatischen Ereignisse in den jetzt mittel- und osteuropäischen Staaten vor und während der friedlichen Revolution, etwa die Solidarność-Streiks in Danzig oder das Durschneiden des Stacheldrahts an der österreichisch-ungarischen Grenze sollten daran erinnern, dass Regionen in Europa eine Ressource zivilgesellschaftlicher Initiativen sind, die Frieden schaffen. Staaten andererseits taumelten in der Vergangenheit wiederholt blind in eine Sicherheitshysterie, die eigene Bevölkerung vor imaginären Feinden zu schützen

 

Autor: Friedhelm Hengsbach
ist Mitglied im Jesuitenorden und war bis 2006 Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Institutes für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Frankfurter Hochschule Sankt Georgen. In seinem Buch: “Was ist los mit Dir, Europa. Für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität“ analysiert er die Ursachen der Unzufriedenheit mit Europa, fordert einen Neuanfang, einen Umbau der Institutionen, ein Umdenken der Politik.