Reiner Diederich
Ist Putin unser Feind? Ist der Islam unser Feind? Sind die Flüchtlinge unsere Feinde? Ist die Technik unser Feind? Letzteres würde heute kaum noch jemand behaupten – oder? Schauen wir doch einmal in den „Spiegel“.
Anfang September dieses Jahres erschien der „Spiegel“ mit dem Titel: „Sie sind entlassen! Wie uns Computer und Roboter die Arbeit wegnehmen – und welche Berufe morgen noch sicher sind“ (Nr. 36/2016). Zu sehen war eine riesige Hand aus Metall, die sich gerade einen Angestellten mit Schlips und Kragen gegriffen hat und ihn von seinem Computer-Arbeitsplatz entfernt. Das war die Paraphrase eines ähnlichen Titelbildes von vor Jahrzehnten, auf dem „Kollege Roboter“ einen Arbeiter im Blaumann verdrängte.
Die Vorstellung, dass neue Maschinen daran schuld sind, wenn Menschen ihre Arbeit und ihr Auskommen verlieren, stammt schon aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals war sie bei den „Maschinenstürmern“ verbreitet, die nicht in der Lage waren, die Hintergründe der technologischen Entwicklung zu begreifen.
Vor allem wussten sie nicht oder wollten nichts davon wissen, dass Maschinen nur Produktionsmittel sind, die einen Besitzer haben und in konkreten ökonomischen Verhältnissen eingesetzt werden. Maschinen können entweder dazu dienen, das Leben für alle zu erleichtern und die notwendige Arbeitszeit für alle zu senken – oder dazu, wie es in einer unregulierten kapitalistischen Ökonomie der Fall ist, Lohnabhängige „freizusetzen“ und den privaten Reichtum der Kapitalbesitzer zu mehren.
Nicht die Technik selbst ist dafür verantwortlich, wenn Menschen arbeitslos werden, sondern diejenigen sind es, die über sie verfügen. Spätestens seit der Kritik der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung an der Maschinenstürmerei gibt es keine Entschuldigung mehr dafür, die falsche These von der „technologischen“ oder „technologisch bedingten“ Arbeitslosigkeit zu verbreiten. Dass dies dennoch bis heute geschieht, liegt im Interesse der Unternehmer, nicht in dem der lohn- oder gehaltsabhängig Arbeitenden.
„Mensch gegen Maschine“ überschrieb der „Spiegel“ seine Titelgeschichte im Inneren des Heftes. „Kapital gegen Arbeit“ hätte es eigentlich wieder einmal heißen müssen. Denn die Profiteure der neuen Phase der Robotisierung kann auch der „Spiegel“ nicht verschweigen: „Dieses Prinzip, ‚Industrie 4.0‘ genannt, elektrisiert die Fantasien der Manager. Es verheißt enorme Sparpotenziale entlang der Kette, die ein Produkt von der Entwicklung über Fertigung, den Vertrieb und Verkauf bis zum Service durchläuft.“
„Enorme Sparpotenziale“ ist hier nur ein schönfärberischer Begriff für Massenentlassungen und fantastische Möglichkeiten, die Gewinne zu steigern.
Wer soll das alles kaufen?
Immerhin macht sich der „Spiegel“ Gedanken über die Folgen: „Wenn viele Menschen keine Beschäftigung mehr finden, weil die Roboter sie arbeitslos machen, dann verlieren sie ihre wichtigste Einkommensquelle. Wie aber sollen sie dann die Produkte und Dienstleistungen konsumieren, die die digitale Wirtschaft hervorbringt? Von welchem Geld können sie diese Produkte bezahlen?“ Diese Frage wird gegen Ende des Artikels wieder aufgegriffen. Die „digitale Dividende“ müsse umverteilt werden, um sie „so vielen wie möglich zugutekommen zu lassen“. Aber wie soll das geschehen?
Gegenüber der „Idee vom Grundeinkommen“ als „überaus teurem Experiment“ oder der Forderung nach einer „Maschinensteuer“, die aber „wahrscheinlich den Fortschritt bremsen“ würde, favorisiert der „Spiegel“ die „elegante Lösung“ des US-Arbeitswissenschaftlers Richard Freeman. Freeman „schlägt vor, dass Arbeiter sich kurzerhand beteiligen sollten an den Maschinen, die ihre Jobs bedrohen“. „Freemans Idee, Arbeitskräfte in Eigentümer zu verwandeln, wird zwar den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital kaum entschärfen, aber sie stellt noch immer eine interessante Alternative dar. Werde kein sozialer Ausgleich gefunden, könnte eine neue Form des Feudalismus entstehen, warnt der Professor. Die Arbeiter würden gleichsam zu Leibeigenen einer kleinen Gruppe, die die Technologie beherrsche.“
Spätestens an dieser Stelle entlarvt sich das „Spiegel“-Titelbild als pure Mystifikation. Die dort gezeigte, von oben zugreifende Roboterhand ist in Wirklichkeit die Eisenfaust des Kapitals, die Arbeitsplätze vernichtet, sobald es technisch möglich ist und sie für die Kapitalverwertung nicht mehr nützlich sind.
Da Bilder bekanntlich „mehr sagen als tausend Worte“ und sich im Gedächtnis tief verankern, prägen sie das Bewusstsein der „Spiegel“-Leser stärker als alle im redaktionellen Text pflichtschuldigst nachgelieferten Details. Zudem erscheint es fast zynisch, wenn als Lösungsvorschlag propagiert wird, die Lohnabhängigen sollten sich durch den Kauf von Aktien selbst zu Eigentümern aufschwingen. Noch dazu, wenn dieser Aktienkauf, wie der „Spiegel“ zugestehen muss, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit „kaum entschärft“.
Unbegriffene soziale Mächte
Das Titelbild des „Spiegel“ kann wie eine Illustration zu dem Thema „unbegriffene soziale Mächte“ gesehen und gelesen werden. Nicht umsonst erinnert es an andere Riesenhände aus der Pop-Kultur, aus Fantasy-und Horror-Filmen – ob sie nun „Untieren“ wie King Kong, künstlich geschaffenen Monstern wie Frankenstein oder biotechnischen Mischwesen wie Cyborgs gehören. In jedem Fall greifen solche Bilder Ängste vor einer Überwältigung auf, geben ihnen Ausdruck und machen sie fassbar.
Die eigentliche Quelle der Ängste bleibt dabei im Verborgenen. Aufklärung ist nicht das Ziel. Aber dadurch, dass die Bilder als Fantasien erkannt werden können, dienen sie letztlich der Angstabfuhr, haben also eine kathartische Wirkung. Für bedrohlich wirkende visuelle Montagen wie die hier betrachtete gilt das nicht. Dieses Bild reiht sich ein in eine lange Reihe ähnlicher Motive, die nicht nur beim „Spiegel“ immer wiederkehren. Sie sind dazu geeignet, Ängste zu verstärken, weil sie suggerieren, etwas in der Realität Übermächtiges wahrheitsgetreu darzustellen.
Dabei haben sie den Charakter von falschen Feindbildern. Deren objektive Funktion ist es, von den tatsächlichen Ursachen sozialer Probleme und Konflikte abzulenken. Sie sind Teil eines „notwendig falschen Bewusstseins“, das heißt von Vorurteilen, Stereotypen und Ideologien, die mit den kapitalistischen Verhältnissen und den jeweiligen Machtstrukturen eng verknüpft sind.
Die Propaganda bürgerlicher und rechtspopulistischer Parteien bedient sich solcher Bilder nur zu gerne. War es früher die „rote Gefahr“ aus dem Osten, die ihre riesige Krallenhand nach den friedlichen Bürgern Westdeutschland ausstreckte, so ist es seit dem Ende der DDR und der Sowjetunion die bei uns angeblich um sich greifende Islamisierung, auf die viele Ängste projiziert werden – noch einmal verstärkt durch die Flüchtlingsbewegung im letzten Jahr und den islamistischen Terror. Inzwischen ist auch das alte Feindbild Russland wieder recycelt worden.
Die Quelle des Übels
Die Ängste und Befürchtungen, die mit derartigen Bildern verbunden werden, entstehen in Wirklichkeit vor allem aus dem, was beschönigend oder verschleiernd als „Modernisierung“ oder „Globalisierung“ bezeichnet wird: Einem sich unter neoliberaler Hegemonie seit Jahrzehnten beschleunigenden Prozess des Abbaus sozialer Sicherungen und Marktbegrenzungen mitsamt verschärfter Konkurrenz der Menschen untereinander und einer immer größer werdenden Kluft zwischen Armut und Reichtum – sowohl national gesehen wie auch in Europa und weltweit.
Statt zu gemeinsamer Gegenwehr führte dieser Prozess zu fortschreitender Individualisierung und Entsolidarisierung. Mittlerweile suchen die vereinzelten Mitglieder der Gesellschaft aber wieder verstärkt nach Halt in etwas Gemeinschaftlichem. Eine ideale Situation für die politische Rechte, um erfolgreich Angebote zur Identifikation mit dem „Eigenen“ zu machen, das gegen das „Fremde“, die feindliche und verunsichernde Außenwelt abgegrenzt werden soll. So kann dann an die Stelle einer Erkenntnis der tatsächlich bedrängenden sozialen Konflikte und der eigenen Interessen in ihnen der Kulturkampf um Unterschiede im Lebensstil und in Glaubensdingen treten.
Diese Unterschiede werden – im Fall des Islam und der angeblich drohenden Islamisierung – hochstilisiert zu Machtfragen. Die eigentlich Mächtigen im Land bleiben bei einer solchen Betrachtung selbstverständlich außen vor. Das ist ja der Sinn der Übung. Nicht nur rechtspopulistische Bewegungen und Parteien befleißigen sich dieser Übung, auch die Mainstream-Medien thematisieren mit Vorliebe Fragen der kulturellen Differenz. Das bezieht sich nicht nur auf das Feld der Religion, sondern noch mehr auf das der alltäglichen Lebensweise.
Die feinen Unterschiede
Überall und ständig ist von Szenen und Milieus die Rede – was sie essen, was sie trinken, wie sie sich kleiden, wie sie wohnen, was sie denken und fühlen. Groteskeste Blüten trieb in diesem Sommer der Streit über Burka und Burkini. Wenn es um solche Themen geht verschwinden scheinbar alle anderen sozialen Differenzierungen.
Von Klassen schreibt und redet in den Medien sowieso kaum einer mehr. Der Begriff erscheint überholt. Dabei markiert er eine Differenz in der vertikalen Dimension der Gesellschaft, zwischen Oben und Unten, die ebenso real, aber härter ist als die Differenzen in der horizontalen Dimension, im alltäglichen Mit-, Neben- und Gegeneinander der Gesellschaftsmitglieder.
Diese harte Differenz wird mit allen Mitteln verdrängt – in der öffentlichen Meinung, aber auch im Bewusstsein der Einzelnen. Sie wahrzunehmen, hieße sich Gedanken machen darüber, was getan werden muss, damit Freiheit und Gleichheit nicht nur unsere vielbeschworenen „europäischen Werte“ am Ideenhimmel bleiben, sondern für alle auch verwirklicht werden können. Einfacher ist es, dem dabei notwendig zu führenden Kampf zwischen Unten und Oben auszuweichen, ihn in die Horizontale zu drehen und zwischen „innen“ und „außen“, „uns“ und den „anderen“, den „Fremden“ auszutragen.
Eine Rückübersetzung ist notwendig
Wenn dieser Ablenkungsmechanismus einmal durchschaut ist, kann versucht werden, die Ablenkung rückgängig zu machen. Verzerrt dargestellte soziale Konflikte können auf ihre wahren Ursachen zurückgeführt, falsche Feindbilder durch eine realistische Definition der Konfliktparteien ersetzt werden. Dann lässt sich beispielsweise die Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen letztlich als Teil des Verteilungskampfes zwischen Oben und Unten verstehen.
Gegen das Argument, diese Erkenntnis nütze nicht viel, da an der Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums zwischen den Klassen sowieso nicht zu rütteln sei, kann eingewandt werden, dass dies nur im Sinne einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ stimmt. Wenn eine starke Bewegung für die gerechtere Verteilung entstünde, sähe die Sache schnell anders aus – und den Rechtspopulisten mit ihrer Ablenkungsstrategie und ihren falschen Feindbildern würde das Wasser abgegraben.
Immer wieder kann man die Erfahrung machen, dass das Alltagsbewusstsein der meisten Menschen ambivalent und widersprüchlich ist, keineswegs nur von Vorurteilen und von dem geprägt, was die Medien jeden Tag mit Macht in die Herzen und Hirne pressen wollen. Realitätsgerechte Einsichten stehen neben „Mythen des Alltags“, Ärger und Wut über die Verhältnisse stehen neben resignativen Tendenzen oder der Versuchung, angeblich Schuldige an der eigenen Misere auszugucken.
Es ist möglich, in ganz alltäglichen Situationen das mühsame Geschäft der Aufklärung zu betreiben. Aufklärung ist nach Kant „der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Angesetzt werden kann dabei an Widersprüchen im Bewusstsein – bei einem selbst und bei denen der jeweiligen Gesprächspartner, ohne sie belehren oder ihre Aussagen bewerten zu wollen.
Ambivalenzen nutzen
Auch der „Spiegel“ ist – wie alle Medien – nicht frei von Widersprüchen, die zur Aufklärung genutzt werden können. In derselben Ausgabe, in der er die Mär von den „die Arbeit wegnehmenden Robotern“ verbreitete, brachte er ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Zygmunt Bauman zu den „Krisen der Gegenwart“.
Ein paar Kernsätze daraus: „Den Flüchtling trifft ein umgeleiteter Zorn. Der Sündenbock erleichtert das beunruhigende und demütigende Gefühl unserer Hilflosigkeit, dem wir alle in der flüssigen Moderne ausgesetzt sind… Nationalismus und die Beschwörung ethnischer Einheit sind ein Ersatz für fehlende Integrationsfaktoren in einer desintegrierenden Gesellschaft… Der Historiker Eric Hobsbawn sagte, die Menschen fangen an, über Identität zu reden, wenn sie aufhören, über Gemeinsamkeiten zu reden.“
Mit dem Begriff „umgeleiteter Zorn“ bekommt Zygmunt Baumann den entscheidenden sozialpsychologischen Mechanismus zu fassen, der sowohl das „Spiegel“-Titelblatt und seine Wirkung erklärt, als auch die Erfolge der Rechtspopulisten in Deutschland, in Europa und in aller Welt.
Baumanns Vorschlag für eine Alternative, nicht nur für Deutschland: „Wir leben längst, ob es uns gefällt oder nicht, in einer kosmopolitischen Situation mit undichten Grenzen und universeller wechselseitiger Abhängigkeit. Aber was uns fehlt, ist das kosmopolitische Bewusstsein.“ – „Wir müssen die Kunst der Integration ganz neu erlernen, unter Verzicht auf das Entweder-oder, wenn wir unserer Lage gerecht werden wollen.“ – „ Es gibt keinen anderen Ausweg aus der Krise, in der die Menschheit sich befindet, als Solidarität.“
Selbstverständlich weiß Zygmunt Baumann und sagt es auch im „Spiegel“-Gespräch, dass dies bedeutet, die gegenwärtige Hegemonie des Neoliberalismus und die kapitalistische Konkurrenz aller gegen alle zu überwinden.
Reiner Diederich war bis 2006 Prof. für Soziologie und politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Er ist Vorsitzender der KunstGesellschaft e.V.
Quelle: BIG Business Crime Nr. 4/2016
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