Den Beitrag „Arm in einem reichen Land. Arbeitsmarkreformen sind kein Motor wirtschaftlicher Entwicklung“ von Wilfried Kurtzke übernehmen wir aus unserer Zeitschrift BIG BUSINESS CRIME (Ausgaben 03/2015) mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Kein anderes relevantes gesellschaftliches Problem ist so aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt worden, wie die massenhafte Arbeitslosigkeit. Soweit Arbeitsmarktprobleme in den medialen Debatten überhaupt noch vorkommen, geht es dabei um Fachkräftemangel oder den demografischen Wandel. Beides suggeriert, wir hätten eher einen Mangel an Arbeitskräften. Auch wenn die Zahl der registrierten Arbeitslosen in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen ist: Es stehen weiterhin fast drei Millionen Menschen auf der Straße. Etwa eine Million Menschen sind dabei länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. Viele Arbeitslose werden von der offiziellen Statistik gar nicht erfasst. Bei einer ehrlichen Rechnung läge die Zahl der Arbeitslosen sogar weit über vier Millionen.
Ein Blick in die Geschichte offenbart, wie hier ein Problem wegdefiniert wurde. In der Krise des Jahres 1967 stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen auf 460.000 an. Das wurde damals als Katastrophe und nationaler Notstand gesehen, auf den politisch mit der Bildung einer großen Koalition reagiert wurde. Ab 1974 stieg dann das Heer der Arbeitslosen dramatisch an, seit 1975 herrscht – zum ersten Mal seit 1955 – Massenarbeitslosigkeit mit mehr als einer Million Menschen ohne Arbeit.
Massenarbeitslosigkeit als normaler Zustand einer kapitalistischen Ökonomie ist dabei kein neues Phänomen. Bereits Karl Marx beschrieb empirisch und theoretisch den Prozess der Herausbildung einer industriellen Reservearmee, der in Gang kommt, weil die Produktivitätsfortschritte größer sind als das wirtschaftliche Wachstum. Marktprozesse führen eben nicht im Selbstlauf zu einer Gleichgewichtssituation mit Vollbeschäftigung.
Die Jahre von 1960 bis Mitte der siebziger Jahre können auch deswegen als Zeit der Vollbeschäftigung verstanden werden, weil es mehr offene Stellen als Arbeitslose gab. Arbeitslosigkeit war ein Problem mangelnder oder falscher Qualifikation oder der räumlichen Verteilung von Arbeitssuchenden. Theoretisch hätte es damals für jeden und jede Arbeitssuchende(n) eine bezahlte Stelle gegeben. Das änderte sich danach. Die Schere zwischen der Zahl der Arbeitslosen und der offenen Stellen öffnete sich immer weiter. Rein rechnerisch entfielen im Jahr 2014 auf jede offene Stelle sechs Arbeitslose. Das bedeutet, die Arbeitslosen haben mangels Arbeitsplätzen überhaupt keine Chance, in Lohn und Brot zu kommen. Arbeitslosigkeit ist ein gesellschaftliches Problem.
Dagegen definieren die Arbeitsmarktreformen der sogenannten Hartz-Gesetze Arbeitslosigkeit als individuelles Problem. Es geht ums Fördern und Fordern. Mal abgesehen davon, dass das Fördern häufig ausblieb und das Fordern oft die Grenze zur Schikane überschritt: Es ist auch der falsche Ansatz. Er setzt voraus, dass es persönliche Defizite der Arbeitslosen sind – entweder bei der Qualifikation (die durch Fördern verbessert wird) oder beim Willen, überhaupt arbeiten zu wollen (hier setzt das Fordern mit Sanktionen ein) – die zur Arbeitslosigkeit führen. Aber es wird mit dieser Politik kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen. Das gesellschaftliche Problem der fehlenden Stellen wird schlicht ignoriert.
Dennoch wird von der Politik, den Medien und vielen Wissenschaftlern hartnäckig behauptet, die Reformen hätten zum Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt und die deutsche Ökonomie fit und robust für die Zukunft gemacht. Begründet wird diese Behauptung mit dem Rückgang der Zahl der Arbeitslosen sowie mit der Zunahme an Erwerbstätigen. Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, stellt sich bei intensiver Betrachtung ganz anders dar. Das Arbeitsvolumen (die Zahl aller gearbeiteten Stunden) ist nicht entsprechend gestiegen. Das Arbeitsvolumen liegt heute mit etwa 58 Milliarden Stunden auf dem gleichen Niveau wie im Jahr 2000 und deutlich niedriger als noch 1991.
Die Reformen haben also keine Arbeit geschaffen. Das ist auch logisch, denn es gibt in der Ökonomie keine Wunder. Wenn das Wirtschaftswachstum höher ausfällt als der Anstieg der Produktivität, steigt das Arbeitsvolumen. Es werden mehr Arbeitsstunden benötigt, um die gesellschaftliche Wertschöpfung zu erzeugen. In der Vergangenheit war meistens das Gegenteil der Fall. Deshalb geht das Arbeitsvolumen – mit konjunkturellen Schwankungen – seit Jahrzehnten zurück. An diesem Prozess können derartige Reformen nichts ändern.
Die Reformen bewirken etwas anderes. Die Arbeitslosigkeit sinkt, weil das Arbeitsvolumen durch kürzere Arbeitszeiten auf mehr Köpfe verteilt wird. Ein Effekt, der von den Befürwortern dieser Politik nicht gerade hervorgehoben wird, aber eine alte Erkenntnis bestätigt: Arbeitszeitverkürzung dient zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Es ist aber eine ganz andere Arbeitszeitverkürzung, als sie von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gefordert wird; es ist eine Arbeitszeitverkürzung unter prekären Bedingungen.
Die Deregulierung des Arbeitsmarktes hat zu einer Ausweitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen geführt. Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge, Werkverträge, Minijobs und Niedriglohnbezahlung haben – zumindest bis 2011 – massiv zugenommen. Zusammen mit der Zunahme des Anteils „normaler“ Teilzeitarbeit hat das zu einer durchschnittlichen Abnahme der Arbeitszeit je Beschäftigten geführt. Obwohl sich die Arbeitszeiten „normaler“ Vollzeitbeschäftigter in dieser Zeit sogar erhöht haben.
In der Dekade von 2000 bis 2010 hatte die Zahl der Erwerbstätigen um 1,3 Millionen zugenommen. Darunter waren 1,8 Millionen herkömmliche Teilzeitarbeitsverhältnisse, 770.000 geringfügig Beschäftigte und eine halbe Million Leiharbeitskräfte. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten (ohne Leiharbeit) ging in diesem Zeitraum jedoch um 2,5 Millionen zurück. Seit 2011 steigt zwar auch wieder die Zahl der im Normalarbeitsverhältnis Beschäftigten an, die massive Prekarisierung der vorhergehenden Jahre wurde aber nicht korrigiert. Während Minijobs vor allem im Dienstleistungsbereich relevant sind, findet Prekarisierung in der Industrie vor allem über die Leiharbeit und Werkverträge statt. Bis zur Deregulierung der Leiharbeit im Jahre 2003 arbeiteten etwas über 300.000 Menschen in Zeitarbeit. Danach stieg ihre Zahl stark an, bis zu Höchststand 2011 mit fast 900.000 Beschäftigten. Später ging die Zahl nur leicht zurück, auf etwas übe 800.000 im Jahr 2014.
Die Arbeitsmarktreformen führten damit nicht nur zu Not und Elend bei den Arbeitslosen (durch die Einführung von Hartz IV und damit einer Absenkung des Leistungsniveaus bei Lohnersatzleistungen); sie zielten auch und vor allem auf die Beschäftigten. Die Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt hat zu einer Absenkung der Löhne vor allem im unteren Einkommensbereich geführt. Das mittlere Einkommen bei Zeitarbeitnehmern liegt 43 Prozent unter dem Lohn der regulär Beschäftigten. Jeder vierte Arbeitnehmer arbeitet inzwischen zum Niedriglohn. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten ist seit 1995 von 5,9 Millionen auf 8,4 Millionen (2012) gestiegen, eine Zunahme um 42 Prozent (Niedriglohnschwelle 9,30 €).
Das zeigt sich im beispiellosen Absturz der Lohnquote bis 2007. Zwar stieg sie danach wieder etwas an, doch sie liegt weit unter dem Niveau des Jahres 2000. Spiegelbildlich sind die Gewinne entsprechend gestiegen (das Volkseinkommen setzt sich aus Löhnen und Gewinnen zusammen). Die Tarifflucht auf Seiten der Unternehmen hat diese Tendenz noch einmal verstärkt. Es geht dabei um gigantische Summen. Addiert man die Verteilungsverluste der Beschäftigten (unter der Annahme, die Lohnquote des Jahres 2001 hätte sich nicht verändert, die Verteilungsrelationen zwischen Kapital und Arbeit wären damals eingefroren worden) so summieren sich die Lohnverluste für den Zeitraum von 2001 bis 2014 auf 1,2 Billionen Euro!
Noch viel stärker als bei den Einkommen konzentriert sich das Vermögen. Nach Schätzungen des DIW (DIW-Wochenbericht 42/2012) entfallen auf die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung zwei Drittel des gesamten Nettovermögens. Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über 36 Prozent des Nettovermögens. Besonders viel Vermögen ist bei ganz wenigen Reichen konzentriert. 0,1 Prozent der Bevölkerung, also ein Tausendstel, verfügen über 22 Prozent des Nettovermögens in Deutschland.
Die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ist nicht nur ein soziales Problem wachsender Armut. Sie bremst auch die wirtschaftliche Entwicklung. Darauf verweist die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schon lange. Spätestens mit der Veröffentlichung des französischen Ökonomen Thomas Piketty (Das Kapital im 21. Jahrhundert) ist diese Debatte auch in einer breiteren Öffentlichkeit angekommen.
Die Bezieher hoher Einkommen sparen einen erheblichen Teil ihrer Einkünfte, während Menschen mit einem geringen Einkommen dieses komplett konsumieren müssen. Steigen die Masseneinkommen nicht genügend, fällt die private Konsumnachfrage zurück. Nach dem ökonomischen Standardlehrbuch würden bei hohen Profiten die Investitionen der Unternehmen entsprechend steigen. Wegen der fehlenden Nachfrage bleiben die Investitionen allerdings gering; die Gewinne fließen in die Finanzmärkte. Es fehlt an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage, das Wachstum wird schwächer.
Bei Ländern mit einer starken Exportindustrie, wie beispielsweise Deutschland, verbessert der Druck auf die Löhne die preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten. Wachstumseffekte kommen aus dem Außenhandel. Tatsächlich erwirtschaftet Deutschland einen gigantischen Außenhandelsüberschuss von sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Doch selbst bei einer exportstarken Nation wie Deutschland reichen die zunehmenden Exporte nicht aus, um die vergleichsweise geringe Binnennachfrage aufzufangen. Langfristig fällt die wirtschaftliche Entwicklung schwach aus. Dabei führen wachsende Überschüsse zu internationalen Verwerfungen: logisch zwingend müssen den Überschüssen gleich große Defizite bei anderen Ländern gegenüber stehen.
Gemessen an dem Ziel, Beschäftigung und Wachstum zu schaffen, sind die Arbeitsmarktreformen gescheitert. Sie haben allerdings sehr erfolgreich zur Umverteilung von unten nach oben beigetragen. Löhne und Sozialleistungen wurden geschwächt, Gewinne gestärkt. Umso beunruhigender ist es, dass diese Reformen zur Blaupause für die angekündigte Überwindung der Eurokrise geworden sind. Den Krisenländern, allen voran Griechenland, wurden neoliberale Reformen im Geiste der Agenda 2010, nur in noch viel größerem Ausmaß, aufgezwungen. Das führt nicht zur Überwindung der Krise, sondern zu Not und Elend und zu einer Aushebelung gewerkschaftlicher Rechte in den betroffenen Ländern.
Was sind die Alternativen zu einer solchen Politik? Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik geht von zwei Prämissen aus:
- Die öffentlichen und privaten Investitionen gehen seit Jahrzehnten zurück.
- Wichtige gesellschaftliche Defizite werden nicht überwunden, weil sie über den Markt nicht bedient werden können.
Deshalb fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik seit Jahren ein Investitions- und Ausgabenprogramm, das genau diese gesellschaftlichen Defizite – zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Pflege und ökologischer Umbau – überwinden soll. Damit würde der gesellschaftliche Wohlstand unmittelbar gemehrt, es würden viele neue Arbeitsplätze entstehen und es gäbe über die erhöhte Nachfrage Wachstumseffekte. Im Gegensatz zu klassischen Investitionsprogrammen sind in den Ausgabenvolumina auch Personalausgaben enthalten.
Viele Jahre lang war der Standardvorwurf gegen ein solches Programm, dass zusätzliche Ausgaben von 100 Milliarden Euro jährlich schlicht unrealistisch seien. Spätestens mit der Finanzkrise wurde dieser Vorwurf entkräftet: Zur Rettung der Banken wurde quasi über Nacht ein Finanzvolumen von 480 Milliarden Euro bereitgestellt. Wenn der politische Wille da ist, lassen sich auch Mittel in einer solchen Größenordnung mobilisieren.
Investitions- und Ausgabenprogramm der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Unter den Bedingungen von Schuldenbremse und Fiskalpakt – die beide ökonomisch falsch sind und von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik immer abgelehnt wurden – ist die Finanzierung eines solchen Programms schwieriger geworden. Doch langfristig ging es dabei nie um eine Kreditfinanzierung. Eine solche Politik kann und muss mit einem anderen, gerechteren Steuersystem finanziert werden.
Die Umsetzung eines solchen alternativen Entwicklungspfades erscheint heute utopisch. Ungebrochen ist die Politik in den Glaubenssätzen neoliberaler Politik gefangen. Doch in der Hegemonie dieser Ideologie zeigen sich inzwischen auch Risse. „Die ökonomischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind enorm. Sie sind nicht erst in den vergangenen Jahren entstanden. (…) Inzwischen werden die fehlenden Regulierungen der Finanzmärkte, der Investitionsstau und die Prekarisierung der Arbeitsmärkte von vielen wahrgenommen. (…) Es hat lange gedauert, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat. Das weckt die Hoffnung, dass sich auch die Umsetzung alternativer Politik durchsetzen wird.“ (Memorandum Kurzfassung 2014, S. 16)
Zum Autor:
Wilfried Kurtzke arbeitet als Ökonom beim Vorstand der IG Metall. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die in diesem Jahr zum 40sten Mal ihr jährliches “Memorandum” herausgebracht hat (erschienen im PapyRossa-Verlag, Köln). Der Beitrag basiert auf einem Vortrag mit Diskussion, den Wilfried Kurtzke am 31. Mai 2015 in einer der von den Vereinen Business Crime Control und KunstGesellschaft veranstalteten Matineen in Frankfurt a. M. hielt und der hier nachgehört werden kann.
Weitere Beiträge in BIG Business Crime 03/2015:
- Christoph Rinneberg: Rede zur Hauptversammlung der Commerzbank in Frankfurt am 30. April 2015
- Gerd Bedszent: Berlin-Brandenburgisches Flughafendesaster ist hausgemacht
- Martin Betzwieser: Flüchtlinge – Es war einmal in Lanzarote
- Gerd Bedszent: Nigeria – Staatszerfall im Ölparadies
- Reiner Diederich: Griechenland und „die Griechen“ in der Bildzeitung
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