Joachim Maiworm

Im Januar 2015 wurde in Deutschland erstmals ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Große Teile der Wirtschaft lehnten diesen Schritt erwartungsgemäß ab, auch in der Wissenschaft herrschte vielfach große Skepsis vor. Der Mindestlohn, so die damalige Prognose, würde zum Abbau von Hunderttausenden Arbeitsplätzen führen. Nach der realen Erfahrung von drei Jahren sind die befürchteten Beschäftigungsverluste allerdings weitgehend ausgeblieben und zugleich relevante Lohnanstiege bei Niedriglohnbeschäftigten zu verzeichnen.

Zwei Fakten werden jedoch in der öffentlichen Darstellung zumeist ausgeblendet. Zum einen verringerte sich zwar der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse mit einem Stundenlohn von unter 8,50 Euro brutto nach Einführung der Mindestlohnregelung. Fast im gleichen Maße aber vergrößerte sich der Anteil derjenigen, die Stundenlöhne zwischen dem Mindestlohn und der Niedriglohnschwelle aufwiesen. Die meisten Betroffenen konnten dem Niedriglohnsegment also nicht entkommen (1). Zum anderen erhalten nach wie vor längst nicht alle derjenigen den gesetzlichen Mindestlohn, die auf diesen einen Anspruch haben.

Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) von Anfang Dezember des vergangenen Jahres zeigt, dass im Jahre 2016 etwa 1,8 Millionen anspruchsberechtigte Personen pro Stunde weniger als die damals geltenden 8,50 Euro verdienten, sofern man der Berechnung ihre vertragliche Arbeitszeit zugrunde legt (im Jahre 2015 waren es sogar noch etwa 2,1 Millionen Personen) (2). Das sind nach Aussage des DIW zwar eine Million weniger als im Jahr vor der Einführung des Mindestlohns (im Jahre 2014 knapp 2,8 Millionen Personen). Es betrifft aber immer noch sieben Prozent der Summe aller anspruchsberechtigten Arbeitnehmer/innen.

Es handelt sich beim Ergebnis der Studie um Schätzwerte, die deutlich über den amtlichen Zahlen liegen. Die von der Bundesregierung eingesetzte Mindestlohnkommission bezieht sich auf Angaben der Arbeitgeberseite, die von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder alle vier Jahre bei rund 60.000 Betrieben erhoben werden. Dabei melden die jeweiligen Lohnbuchhaltungen die bezahlten Monatslöhne sowie die vertraglichen (nicht die tatsächlichen!) Arbeitszeiten.

Die Ergebnisse der DIW-Studie basieren dagegen auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das heißt auf eine jährlich durchgeführte repräsentative Bevölkerungsbefragung. Dabei geben die Arbeitnehmer/innen selbst Auskünfte zu ihren Arbeitsbedingungen. Werden die Erwerbstätigen hinzugerechnet, die nicht unter die gesetzliche Mindestlohnregelung fallen (Selbständige, Azubis, Beschäftigte in Branchen mit Übergangsfristen), steigt nach DIW-Angaben die Zahl der im Jahre 2016 unterhalb der Mindestlohnschwelle bezahlten Personen von 1,8 auf 4,4 Millionen. Berechnet man den Stundenlohn auf Basis der tatsächlichen Arbeitszeit, sind es sogar 6,7 Millionen Personen.

Verstöße gegen das Mindestlohngesetz finden sich zwar quer durch alle Branchen und Betriebsgrößen, vor allem jedoch in den klassischen Niedriglohn-Branchen und bei Minijobber/innen: am Bau, in Hotels und Gaststätten, in der Gebäudereinigung, im Einzelhandel, im Taxigewerbe. Über 40% der geringfügig Beschäftigten, so das Ergebnis der DIW-Studie, verdienen noch immer weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Stefan Körzell vom Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB kommentierte die Studie deshalb mit deutlichen Worten:

„Ich vermisse den Aufschrei in der Politik. Man müsste sich mal vorstellen, die Meldung wäre gewesen in einem Wochenbericht des DIW, 1,8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland schwindeln bei Hartz IV  ̶  was hier für ein Aufschrei gewesen wäre in diesem Land. Hier betrügen Arbeitgeber 1,8 Millionen Beschäftigte, und das wird so hingenommen, als wenn das ein alltäglicher Vorgang wäre. Und das ist das eigentlich Skandalöse. Ein Rechtsstaat stellt sich auch infrage, wenn er das einfach so durchgehen lässt.“ (3)

Millionen abhängig Beschäftigter sind Opfer krimineller Unternehmer. Es gehen aber auch dem Staat immense Summen an Sozialbeiträgen und Steuern verloren. Die Regierung fördert trotzdem (und nach dem Motto: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“) aktiv diese Form der Arbeitsmarktkriminalität. Das zeigt sich nicht zuletzt an ihrem unseriösen Umgang mit empirischen Daten. Die von der Mindestlohnkommission verwendeten Zahlen sind für Fachleute schlicht unbrauchbar und Studien wie die des DIW deshalb immer wieder unverzichtbar.

 

Anmerkungen:

 (1) Vgl. WSI Mitteilungen 7/2017, S. 475;

Die Niedriglohnschwelle wird als zwei Drittel des Medianlohns definiert. Dieser wiederum wird auch als mittlerer Lohn bezeichnet; das heißt es verdienen genau gleich viele Personen mehr bzw. weniger. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn wird geteilt durch die Anzahl aller Bruttostundenlöhne. Der Medianlohn ist aussagekräftiger, da sich Ausreißer am oberen Ende des Lohnspektrums nicht verzerrend auswirken. 2015 lag die Niedriglohnschwelle bei 9,94 Euro.

DIW Wochenbericht 49/2017, 6. Dezember 2017

Deutschlandfunk (Dlf-Magazin), 4. Januar 2018

 

Joachim Maiworm lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.