Bericht von Reiner Diederich über eine Matinee mit Prof. Dr. Volker Mosbrugger

Unter dem Titel „Die große Biodiversitätskrise – wieviel Natur braucht der Mensch?“ fand am Sonntag, dem 16. Juni 2019 im Frankfurter Club Voltaire eine gut besuchte Matinee von Business Crime Control und KunstGesellschaft statt. Eingeladen war mit Prof. Dr. Volker Mosbrugger, dem Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ein profunder Kenner der Materie und engagierter Streiter für einen besseren Schutz von Umwelt und Natur.

Zunächst stellte Volker Mosbrugger fest, dass der Klimawandel und seine schädlichen Folgen so stark im Fokus der aktuellen politischen Auseinandersetzungen stehen, dass der immer dramatischere Rückgang der Biodiversität bis vor kurzem in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielte. Dazu mag auch der etwas sperrige Begriff beigetragen haben. Er ist nur unzureichend mit „Artenvielfalt“ in der Tier- und Pflanzenwelt zu übersetzen. Im Unterschied beispielsweise zur Höhe der CO2-Emissionen kann der Verlust an Biodiversität nicht rückgängig gemacht werden. Der Klimawandel ist vielleicht noch zu stoppen, aber eine einmal ausgestorbene Pflanzen- oder Tierart kann nicht wiederbelebt werden. Aus der Erdgeschichte wissen wir: Es dauert Millionen Jahre, bis nach einem Massenaussterben die ursprüngliche biologische Vielfalt durch Evolution neuer Arten wieder erreicht wird. Die Biodiversitätskrise sei in diesem Sinne gravierender als das immer noch reversible Fortschreiten der Erderwärmung.

Wie gravierend das Problem ist, zeigen einige Zahlen. So belegt eine Studie an einem Trockenhang von Regensburg, dass seit 1840 bereits 30-40 Prozent der Schmetterlingsarten verschwunden sind. Andere Studien an anderen Organismengruppen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Darüber hinaus hat eine als „Krefelder Studie“ bekannte Untersuchung festgestellt, dass über einen Zeitraum von 27 Jahren in den untersuchten Naturschutzgebieten die Biomasse von Fluginsekten um 75 Prozent abgenommen hat. Dieses Artensterben gefährdet inzwischen auch die menschlichen Lebensgrundlagen, stellte ein Anfang Mai 2019 veröffentlichter Bericht des Weltbiodiversitätsrates fest. Bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten könnten in den nächsten Jahrzehnten aussterben, wenn nichts dagegen unternommen wird.

Eine der Hauptursachen für die Einschränkung der Lebensmöglichkeiten für Pflanzen und Tiere ist die Zerstörung von naturnahen Lebensräumen und die intensive Nutzung des Bodens für Land- und Forstwirtschaft. Dafür werden in der Bundesrepublik insgesamt etwa 80 Prozent der Flächen gebraucht. 20 Prozent sind bebaut und nur 4 Prozent stehen für Naturschutzgebiete zur Verfügung. Das reicht nicht zur Kompensation.

Intensive Landwirtschaft, das heißt effiziente und kostengünstige Produktion von Nahrungsmitteln mit Hilfe des Einsatzes chemischer Mittel. Als eine der ersten hat die US-amerikanische Schriftstellerin Rachel Carson 1962 in ihrem Buch „Der stumme Frühling“ auf die Auswirkungen von Herbiziden und Pestiziden aufmerksam gemacht. In der Folge wurde die Nutzung von DDT verboten. Aber heute gelingt es bisher nicht, trotz aller Proteste von Umweltverbänden, den vom Bayer/Monsanto-Konzern vertriebenen „Unkrautvernichter“ Glyphosat aus dem Verkehr zu ziehen. Die Bundesregierung in Gestalt des damaligen Landwirtschaftsministers Schmidt verhinderte 2017 im Interesse der Agrar-Lobby ein Glyphosat-Verbot in der EU.

Volker Mosbrugger sagt dazu, dass abgesehen vom wissenschaftlichen Streit darüber, ob Glyphosat Krebs erzeugt oder begünstigt – wobei die von Bayer/Monsanto direkt oder indirekt geförderte Forschung dies selbstverständlich verneint – es eindeutig auf der Hand liege, dass das Mittel da, wo es eingesetzt wird, alle Pflanzen außer der (gentechnisch gegen es resistent gemachten) Nutzpflanze vernichtet – denn das ist genau der Zweck, zu dem dieses Breitband-Herbizid eingesetzt wird. Um seine grundsätzliche Schädlichkeit für die Biodiversität zu beweisen, braucht man daher keine weiteren wissenschaftlichen Gutachten.

Wenn man von einer Landwirtschaft wegkommen wolle, die auf Kosten von Umwelt und Gesundheit Billigwaren produziert, müsste ihre Subventionierung aus EU-Töpfen von der Förderung nach Flächen und Mengen auf die Förderung umweltschonender und nachhaltiger Produktion umgestellt werden.

Biodiversität ist nicht nur wichtig als „Wert an sich“, zur Erhaltung der Arten und zur Sicherung biologischer Entwicklungsmöglichkeiten. Ihre „Dienstleistungen“ sind auch für die Menschheit überlebenswichtig. Sie können mittlerweile quantifiziert werden. Beispielsweise würde es ca. 400 Milliarden Euro Verlust pro Jahr bedeuten, wenn die für das Wachstum von Früchten notwendige Bestäubung durch Bienen und andere Insekten wegfiele. In den USA müssen, so Mosbrugger, hier und da bereits Trucks mit Bienenvölkern herumgefahren werden, um die Bestäubung zu gewährleisten.

Insgesamt würde der volkswirtschaftliche Wert der Leistungen durch Biodiversität etwa 125-145 Billionen US-Dollar ausmachen, d.h. das Anderthalbfache des jährlichen globalen Bruttosozialprodukts. Für diese Leistungen wird bisher nichts gezahlt, weil die Natur scheinbar gratis da ist. Es wäre notwendig, die externalisierten Kosten in die Produktpreise einzurechnen, um statt des Raubbaus an natürlichen Ressourcen zu einem nachhaltigen Wirtschaften übergehen zu können.

Volker Mosbrugger hält es für notwendig und möglich, zu einer „öko-sozialen Marktwirtschaft“ zu gelangen. Dafür müsse aber eine starke Bewegung entstehen. Die „Fridays for Future“ begrüßt er in diesem Zusammenhang und stellt den sich engagierenden Schülerinnen und Schülern gerne einen Raum im Senckenberg-Museum für ihre Diskussionen zur Verfügung.

Wenn die Entwicklung ungebremst so weitergehe, „fällt es uns auf die Füße“, denn inzwischen ist die Natur zu einer knappen Ressource geworden. Wir dürfen uns nicht mehr wie „Parasiten der Natur“ verhalten. Abgesehen davon, dass es unethisch ist, nützt es uns auch nichts mehr, meint Mosbrugger: „Aus rein egoistischen Gründen müssen wir die Biodiversität erhalten.“ Das Argument, ernsthafte Maßnahmen zu ihrer Erhaltung würden Arbeitsplätze gefährden oder wie in Frankreich zu einem Aufstand von „Gelbwesten“ führen, sticht nur dann, wenn sie nicht mit der Verteilungsfrage verbunden, d.h. „sozialverträglich“ ausgestaltet werden, also die Reicheren belasten, nicht die Ärmeren. Das wird in der lebhaften Diskussion, die sich an Mosbruggers Thesen anschließt, klargestellt.

Auch international ist es eine Verteilungsfrage. Wenn Brasilien seinen Regenwald verkaufen will, was der rechtsextreme Präsident Bolsonaro ankündigt, dann müssten die reicheren Länder ihn Brasilien abkaufen, aber im Interesse des für alle wichtigen Weltklimas stehen lassen, statt ihn abzuholzen, meint Volker Mosbrugger. Wenn die Gewinnung von „Bioenergie“ zuviel Fläche kostet, die für die Produktion von Nahrungsmitteln besser genutzt werden könnte, dann sei das eine Diagnose wie beim Arzt: Schlägt man sie in den Wind, wird die Krankheit schlimmer. Alle Umweltthemen hingen systemisch miteinander zusammen. Vieles wisse man noch nicht, vieles sei komplizierter als gedacht, aber einiges könne man schon wissen. So ist das Elektroauto, das heute als Lösung angeboten wird, um von fossilen Energieträgern Abschied nehmen zu können und zu einer Verbesserung der Luftqualität in den Städten zu kommen, bestenfalls eine Übergangslösung. Seine Ökobilanz ist jedenfalls kaum besser als die der herkömmlichen mit Benzin oder Diesel betriebenen Wagen.

Wie drängend die Probleme sind, zeigt sich auch daran, dass heute schon die Zahl der Umweltflüchtlinge die der Kriegsflüchtlinge übersteigt. Wobei in Zukunft auch vermehrt kriegerische Auseinandersetzungen wegen sich verschlechternder Umweltbedingungen drohen – aus Mangel an Wasser beispielsweise. Für 2050 gibt es eine Prognose von 50-250 Millionen Umweltflüchtlingen, wenn nichts geschieht, um die Lage zu verbessern.

Auf die Frage, ob nicht das weltweite Bevölkerungswachstum die Hauptsorge sein müsse, antwortet Mosbrugger, dass bei wachsendem Wohlstand, besserer Bildung und mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen die Geburtenrate von alleine zurückgeht, wie das europäische Beispiel zeigt – und mittlerweile auch die Entwicklung in China, wo der Zwang zur Einkind-Familie aufgehoben wurde, ohne dass die Zahl der Geburten wesentlich in die Höhe geht.

Im Unterschied zur Klimakrise, die sich nur global lösen lässt, kann gegen die Biodiversitätskrise lokal vieles getan werden. Es geht darum, in Land- und Forstwirtschaft eine naturnahe nachhaltige Nutzung zu etablieren. Es geht darum, noch mehr Natur in die Städte zu bringen. Die höchste Biodiversität ist heute schon in den Städten vorhanden. Aber die Tendenz zur Bodenversiegelung, zu Steingärten mit sterilen Buchsbäumen sei noch nicht gebrochen, meint Mosbrugger. Unsinnigerweise würden viermal im Jahr Grünflächen gemäht aus einem überkommenen Ordnungs- und Sauberkeitsdenken heraus: „Die Deutschen lieben es sauber. Die Insekten lieben es nicht sauber.“ Für ein neues „mind setting“ brauche es viel Zeit und Geduld. Immerhin werden schon hier und da Dächer begrünt und es gibt Projekte zum „urban gardening“.

Beim Umbau und bei der Neugestaltung des Senckenberg-Museums sollen all diese Themen stärker berücksichtigt werden. Die Ausstellungsfläche wird auf 12 000 qm verdoppelt werden. Schon heute hat das Museum rund 400 000 Besucherinnen und Besucher im Jahr. Der Etat beträgt 5 Mio. Euro – die Stadt Frankfurt am Main trägt gerade einmal 370 000 Euro dazu bei.

In der Diskussion wird dies als Beispiel dafür gewertet, dass es den Kommunen auf Grund der gegenwärtigen Verteilungsverhältnisse an Geld für die Förderung von Bildungseinrichtungen, Museen und anderen Gemeingütern fehlt – öffentliche Armut und privater Reichtum bedingen einander.

Die gemeinnützige Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, deren Generaldirektor Volker Mosbrugger ist, hat laut Satzung die Aufgabe, „Naturforschung zu betreiben“ und „die Forschungsergebnisse der Allgemeinheit durch Museen und Sonderausstellungen, durch Vorträge, geeignete Veranstaltungen und Publikationen zugänglich zu machen.“ Zur Erfüllung dieser Aufgaben unterhält die Gesellschaft sieben Forschungsinstitute und drei Naturmuseen an 11 Standorten in Deutschland. Sie ist in der einen oder anderen Weise in insgesamt 150 Ländern der Welt tätig.

Das höchste Gut der Wissenschaft sei Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit, sagt Mosbrugger. Man könne sich als wissenschaftliche Institution nicht wie eine NGO verhalten, aber sein Wissen durchaus „etwas aggressiver“ vermitteln, um ein Umdenken zu bewirken oder zu beschleunigen.

Für dieses Umdenken gibt es bereits Zeichen. Eine repräsentative Umfrage des Umweltbundesamtes brachte das Ergebnis, dass 81 Prozent der Bundesbürger meinen, die Energiewende müsse beschleunigt werden. 68 Prozent wollen, dass Umwelt- und Klimaschutz in der Landwirtschaft eine „übergeordnete Rolle“ spielen. In Bayern hatte jüngst das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ einen überraschend großen Erfolg und führte zu einem entsprechenden Gesetz. Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder für einen schnelleren Ausstieg aus der Kohle lassen hoffen. Auch in den Wahlergebnissen schlägt sich mittlerweile nieder, dass die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für die Mehrheit der Bevölkerung immer wichtiger wird.

In einem Interview meinte Volker Mosbrugger einmal im Hinblick auf noch mangelndes Problembewusstsein in der „Führungsschicht“, „wer in Davos beim Weltwirtschaftsforum über einen Global Risk Report diskutieren könne, in dem das Wort Natur nicht einmal auftauche, habe noch nicht verstanden, dass Natur mit Ökonomie und Gesellschaft zusammen gedacht werden müsse.“